Full text: [Tertia, [Schülerband]] (Tertia, [Schülerband])

Uhland: Normannischer Brauch. 5 
Insonders wert ist mir so edler Gast, 
Der aus dem nord'schen Heimatlande kommt, 
10 Von wannen unsre Väter hergeschifft, 
Davon man noch so vieles sagt und singt. 
Doch muß ich dir eröffnen, edler Herr, 
Wer bei mir einkehrt, sei er noch so arm, 
Wird angesprochen um ein Gastgeschenk. 
15 Balder. Mein Schiff, das in der Bucht vor Anker liegt, 
Es hegt der seltnen Waren mancherlei, 
Die ich vom Mittelmeere hergeführt, 
Goldfrüchte, süße Weine, bunte Vögel; 
Auch wahrt es Waffen, nord'scher Schmiede Werk, 
20 Zweischneid'ge Schwerter, Harnisch, Helm und Schild. 
Richard. Nicht solches meint' ich, du verstehst mich falsch. 
Es ist ein Brauch in unsrer Normandie: 
Wer einen Gast an seinem Herd empfing, 
Verlangt von ihm ein Märchen oder Lied 
25 Und giebt sofort ein gleiches ihm zurück. 
Ich halt' in meinen alten Tagen noch 
Die edeln Sagen und Gesänge wert, 
Darum erlass' ich dir die Fordrung nicht. 
Balder. Ein Mätrchen ist oft süß wie Cyperwein, 
30 Wie Früchte duftig und wie Vögel bunt, 
Und manch ein altertümlich Heldenlied 
Ertönt wie Schwertgeklirr und Schildesklang; 
Drum war mein Irrtum wohl nicht allzugroß. 
Zwar weiß ich nicht so Herrliches zu melden, 
35 Doch ehrt' ich gern den löblichen Gebrauch. 
Vernimm denn, was in heitrer Mondnacht jüngst 
Ein Schiffsgenoß auf dem Verdeck erzählt! 
Richard. Noch einen Trunk, mein Gast! Beginne dann! 
Balder. Zween nord'sche Grafen hatten manches Jahr 
M Das Meer durchsegelt mit vereinten Winpeln, 
Vereint bestanden manch furchtbaren Sturm, 
Manch heiße Schlacht zur See und am Gestad', 
Auch manchesmal im Süden oder Osten 
Auf blüh'ndem Strand zusammen ausgeruht. 
Jetzt ruhten sie daheim auf ihren Burgen, 
In gleiche Trauer beide tief versenkt; 
Denn jeder hatt' ein treues Ehgemahl 
Unlängst begleitet nach der Ahnengruft. 
Doch sproßt' auch jedem aus dem düstern Gram 
50 Ein süßes, ahnungsvolles Glück herauf: 
Dem einen blüht' ein muntrer Sohn, 
Der andre pflegt' ein liebes Töchterlein. 
Um ihren alten Freundschaftsbund zu krönen 
Und dauerndes Gedächtnis ihm zu stiften, 
55 Beschlossen sie, die teuern Sprößlinge 
Dereinst durch heil'ge Bande zu verknüpfen. 
Zween goldne Ringe ließen sie bereiten, 
Paulsiet. deutsches Lesebuch. II. 1. 
25 
15
	        
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