Welch eine Sprach' ist schön, welch eine Sprach' ist reich
Verschieden an Getön, im Sinn find alle gleich.
Nicht dies' und jene Sprach entzückt, erfreuet mich;
Was mich erfreut, entzückt, das ist die Sprach' an sich.
Daß eine Sprach' es giebt, die, was du fühlst und denkest,
Dir deutlich macht, je mehr du dich in sie versenlkest;
Daß eine Sprach' es giebt, kraft deren du verlündest
Der Welt geheimen Sinn, so weit du sie ergründest.
Drum ist die schönste Sprach' und beste, die du nennst,
Die Muttersprache, weil du sie am besten kennst.
Friedrich Rückert.
Oie Weisheil des Brahmanen, 1836—89.)
Die Sprache steht in der Mitte zwischen den beiden Gebieten der Natur und des Geistes. Auf der
einen Seite ein natürlich Gewordenes, das keines Menschen Witz ersonnen und gebildet hat, das aus der Nalur
des menschlichen Wesens mil Notwendigkeit hervorgeht und dessen Gestaltung von der Willkür des einzelnen
ebenso unabhängig ist wie der Organismus des Leibes und wie der Bau der Pflanze; auf der andern Seite
aber eine freie That des Geistes, welcher nirgends den Stoff selbständiger zu beherrschen scheint. Darum giebt
es lein treueres Abbild des Volls- und Menschengeistes als die Sprache; mit der Feststellung seiner Sprache
beginnt die selbständige Geschichte jedes Volkles, und der einzelne bekundet seine geistige Reife, indem er der
Sprache mächtig ist. So wunderbar vereinigt sie in sich das Wesen freier Selbstbestimmung und natürlicher
Entwickelung, so durchdringt sich in ihr Freiheit und Notwendigkeit.
Ernst Curtius.
Gestrede zur alademischen Preisverteilung. Göttingen, 18657