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Erzählende Prosa.
IJ. Sagen.
Während die Geschichte durch Thaten der Menschen hervorgebracht wird, schwebt über
ihnen die Sage als ein Schein, der dazwischen glänzt, als ein Duft, der sich aäͤn sie setzt
Niemals wiederholt sich die Geschichte, sondern ist üͤberall neu und frisch, unaufhörlich
wiedergeboren wird die Sage. Festen Schrittes am irdischen Boden wandelt die Geschichte,
die geflügelte Sage erhebt sich und senkt sich ihr weilendes Niederlassen ist eine Gunst, die
sie nicht allen Völlern gewährt. Wo ferne Ereignisse verloren gegangen wären im Duͤnkel
der Zeit, da bindet sich die Sage mit ihnen und weiß einen Teil davon zu hegen; wo der
Mythus geschwächt ist und zerrinnen will, da wird ihm die Geschichte zur Stütze
Jakob Grimm. Deutsche Mythologie.
228. Walther und Hildegunde.
Nach Karl Simrock. Altdeutsches Lesebuch in neudeutscher Sprache. Stuttgart und Tübingen, 1851.
Die mächtigen Hunnen, unter dem siegreichen Attila (Etzel) andere Völker
bezwingend und sich zinsbar machend, begannen über die Donaͤu an den Rhein
gegen die Franken, an die Saone und Rhone gegen die Burgunden, von da
weiter gegen Aquitanien vorzudringen. Gibich, der fränkische König, herrschte
zu Worms, Heririch, der burgundische, zu Chalons; Alphers, des aquitanischen,
Hauptstadt war Lengers. Alle diese Fürsten zogen dem Kampfe freiwillige
Unterwerfung vor und gaben Zins und Geiseln. Da Gunther, Gibichs Sohn,
allzujung war, so wurde Hagen von Troja vergeiselt, von burgundischer Seite
Hildegunde, die Königstochter, aus Aquitanien Walther, der Königssohn. Froh
solcher Beute, kehrten die Sieger nach Ungarn heimm. (Vgl. S. 325.) Die
Geiseln, freundlich gehalten, wußten sich bald in Attilas Gunst festzusetzen.
Helke, die Königin, gewann Hildegunden lieb, und die Gefangene erlangte zuletzt
das Amt einer Schatzmeisterin. Hagen und Walther ragten in Kriegszügen
hervor. Unterdessen war Gibich gestorben und Gunther nachgefolgt; dieser löste
alsbald das hunnische Bündnis auf und weigerte den Zins. Hagen, kaum
davon benachrichtigt, entfloh aus der Gefangenschaft. Seine Flucht erweckte
Helken Besorgnisse; sie ermahnte ihren Gemahl auf Walther zu achten; er möchte
ihn durch Heirat mit einer hunnischen Fürsteutochter zu fesseln suchen. Walther
aber wich Attilas Vorschlage klüglich aus unter dem Vorwande, daß er, ver—
mählt, Herrendienst im Kriege versäümen müßte.
Nicht lange nachher brach wieder ein Krieg aus, welchen Walthers Tapfer—
keit entschied. Dem zurückkehrenden Sieger ward von Hildegunden der Becher
gereicht, und er fand Gelegenheit, mit ihr allein zu reden. Da entspann sich
zwischen ihnen ein trauliches Gespräch; beide wußten, daß ihre Väter sie ehe—
mals einander verlobt hatten. Jetzt herangewachsen, aber vergeiselt und fern
der Heimat, bekannten sie sich zu jenem Verlöbnis, fühlten sich veremigt in ihrer
Sehnsucht nach der Heimat und verabredeten einen Fluͤchtplan. Hildegunde sollte
aus den Schätzen der Hunnenfürsten des Königs Panzer, Helm und Haruisch,
zwei mäßige, mit goldenen Spangen gefüllte Schreine ünd für sich und Walther
je vier Paar Schuhe bereit halten; dazu noch zwei Angeln, mit denen Walther
auf der Flucht Fische fangen wollte, wenn bessere Kost gebräche. Die Flucht
Paul etl, deutsches Lesebuch. 1II. 1. 16