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fein reiner, sittlicher Geist dnrchdrang die alten Gebränche nnd Gewohn¬
heiten mit nenem Leben. Nach seinen Grundsätzen einer harmonischen
Ausbildung an Leib und Seele wurde die Erziehung der Jugend durch
gymnastischen und musischen Unterricht mit ganz besonderer Sorgfalt ge¬
leitet, in welch letzterem Alles, was Wissenschaft und Kunst in der dama¬
ligen Zeit zu lehren vermochte, einbegriffen war. Im Gegensätze zu
Sparta war die Arbeit eine Ehre und somit der gewerblichen, wie der
künstlerischen Entwickelung freie Bahn geöffnet. Gegen den Müssiggänger
konnte öffentliche Klage erhoben werden und der Ueberführte ward an sei¬
ner Ehre und an seinem Bürgerrecht gestraft, gleich wie derjenige, welcher
sich weigerte, im Staate an eine bestimmte Partei sich anzuschließen.
Das Familienleben behandelte Solon mit der größten Achtung und
der sorgfältigsten Feinheit. Die Ehen sollten aus Liebe, nicht ans Ge¬
winnsucht geschlossen werden; die Mitgift war verboten; Sittsamkeit und
häusliche Tugend sollte als einziger Brautschatz gelten. Untreue machte
ehrlos, und den Kindern war die höchste Ehrfurcht vor den Eltern geboten.
Nachdem die neue Gesetzgebung von den athenischen Bürgern ange¬
nommen worden war, verließ Solon nach einer fünfzehnjährigen Arbeit
sein Vaterland, um auf einer morgenländischen Reise Erholung zu finden
und neue Schätze der Erfahrung in fremden Ländern zu sammeln. Auf
dieser Reise gelangte er von Aegypten aus nach Sardes an den Hof des
lydischen Königs Krösus, dessen Schicksal bereits früher erwähnt wurde *).
Als Solon nach zehnjähriger Abwesenheit in die Vaterstadt zurückkehrte,
fand er überall Streit und Zerwürsniß. Sein Jugendfreund Pisistra-
tos, von welchem er selbst sagte, „daß, wenn man nur seinen Ehrgeiz
entfernen und ihn heilen könnte von der Leidenschaft: zu herrschen, kein
Manu wäre, welcher von Natur mehr Anlage zu jeder Tugend habe, und
kein besserer Bürger," dieser Pisistratos hatte den größten Anhang im Volke.
Durch Gefälligkeit und einschmeichelndes Wesen, durch List und Gewalt gelang
es ihm, sich zur höchsten Gewalt im Staate emporzuschwingen, trotz der Ge¬
genbemühungen Solons, welcher die Erhebung eines durch eigene Macht
*) Damals antwortete Solon dem Krösus auf die Frage: ob er ihn nicht für
den Glücklichsten unter allen Menschen halte, mit der Erzählung von Tellus, seinem
athenischen Mitbürger, der nach einem glücklichen und tugendhaften Leben eines ruhm¬
vollen Todes auf dem Schlachtfelde gestorben sei, und erzählte ihm auch die Geschichte
der beiden Jünglinge Kleobis nnd Biton, die, nachdem sie ihre Mutter zum Tempel
gebracht, sich selbst statt der mangelnden Thiere vor den Wagen spannend, am Altäre
des Gottes sanft und schmerzlos entschliefen zum Lohn für die Erfüllung der kindlichen
Pflicht Herodot läßt den Solon daun schließlich hinzufügen: „O Krösus, mich, der
da weiß, wie neidisch und voller Wandel die Gottheit ist, mich fragest du um der
Menschen Schicksal? Du bist, wie ich sehe, gewaltig reich und Herr über viele Völker;
das aber, darum du mich fragst, kann ich dich nicht nennen, bevor ich nicht erfahren,
daß du dein Leben glücklich geendet, denn bei jeglichem Ding muß man auf das Ende
sehen, wie es hinaus geht. Denn Vielen hat Gott das Glück vor Augen gehalten
und sie dann gänzlich zu Grunde gerichtet."