Full text: Lesebuch zum Gebrauch in Töchterschulen

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6. Ter Ring des Polykràs 
1. Er stand aufseinesDachesZinnen, 
er schaute mit vergnügten Sinnen 
auf das beherrschte Samos hin. 
„Dies alles ist mir untertänig," 
begann er zu Ägyptens König, 
„gestehe, daß ich glücklich bin!" 
2. „Du hast der Götter Gunst er¬ 
fahren! 
Die vormals deinesgleichen waren, 
die zwingt jetzt deines Zepters Macht. 
Doch einer lebt noch, sie zu rächen; 
dich kann mein Mund nicht glücklich 
sprechen, 
solang' des Feindes Auge wacht." 
3. Und eh der König noch geendet, 
da stellt sich, von Milet gesendet, 
ein Bote dem Tyrannen dar: 
„Laß, Herr, des Opfers Düfte steigen 
und mit des Lorbeers muntern Zweigen 
bekränze dir dein festlich Haar! 
4. Getroffen sank dein Feind vom 
Speere; 
mich sendet mit der frohen Märe 
dein treuer Feldherr Polydor." — 
Und nimmt aus einem schwarzen 
Becken 
noch blutig, zu der beiden Schrecken, 
ein wohlbekanntes Haupt hervor. 
5. Der König tritt zurück mit Grauen. 
„Doch warn' ich dich, dem Glück zu 
trauen," 
versetzt er mit besorgtem Blick. 
„Bedenk', auf ungetreuen Wellen — 
wie leicht kann sie der Sturm zer¬ 
schellen — 
schwimmt deiner Flotte zweifelnd 
Glück." 
6. UndehernochdasWortgesprochen, 
hat ihn der Jubel unterbrochen, 
der von der Reede jauchzend schallt. 
Mit fremden Schätzen reich beladen, 
kehrt zu den heimischen Gestaden 
der Schiffe mastenreicher Wald. 
7. Der königliche Gast erstaunet. 
„Dein Glück ist heute gut gelaunet, 
doch fürchte seinen Unbestand. 
Der Kreter waffenkund'ge Scharen 
bedräuen dich mit Kriegsgefahren; 
schon nahe sind sie diesem Strand." 
8. Und eh ihm noch das Wort ent¬ 
fallen, 
da sieht man's von den Schiffen wallen, 
und tausend Stimmen rufen: „Sieg! 
Von Feindesnot sind wir befreiet, 
die Kreter hat der Sturm zerstreuet, 
vorbei, geendet ist der Krieg!" 
9. Das hört der Gastfreund mit 
Entsetzen. 
„Fürwahr, ich muß dich glücklich 
schätzen! 
Doch," spricht er, „zittr' ich für dein 
Heil. 
Mir grauet vor der Götter Neide; 
des Lebens ungemischte Freude 
ward keinem Irdischen zuteil. 
10. Auch mir ist alles wohl gerateu; 
bei allen meinen Herrschertaten 
begleitet mich des Himmels Huld. 
Doch hatt' ich einen teuren Erben, 
den nahm mir Gott, ich sah ihn sterben, 
dem Glück bezahlt' ich meine Schuld. X 
11. Drum willst du dich vor Leid 
bewahren, 
so flehe zu den Unsichtbaren, 
daß siezum GlückdenSchmerz verleihn. 
Noch keinen sah ich fröhlich 
enden, 
auf den mit immer vollen Hän¬ 
den 
die Götter ihre Gaben streun. 
12. Und wenn'- die Götter nicht 
gewähren, 
so acht' auf eines Freundes Lehren
	        
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