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Weil es geregnet hatte, waren tausend frische Blüthen hervorgesproßt,
tausend Knospen geöffnet, und auf den Blättern perlten Thautropfen.
Erich schwärmte still entzückt umher, wie eine emsige Biene, und pflückte.
§. 11. Da neigte sich die Sonne zum Untergange, und der
fröhliche Knabe eilte mit vollem Körbchen zur Heimath. Wie entzückte
ihn sein Blumenschatz und der Perlenkranz seiner frisch gesammelten
Erdbeeren. Die untergehende Sonne umstrahlte sein freundliches Antlitz,
während er heim wandelte. Aber noch freundlicher glänzte sein Auge,
als er den Dank und die Freude der zärtlichen Schwester vernahm.
„Nicht wahr," sagte die Mutter, „die Freuden, die wir an¬
dern bereiten, sind doch die schönsten von allen!"
<». Der Hausstand ist die Grundlage des Staats.
Wo in den Häusern Gehorsam nicht gehalten wird, wird man es
nimmermehr dahin bringen, daß eine ganze Stadt, Land, Fürstenthum
oder Königreich wohl regiert werde; denn da ist das erste Regiment,
von dem alle anderen Regimenter und Herrschaften ihren Ursprung haben.
Wo nun die Wurzel nicht gut ist, da kann weder Stamm, noch gute Frucht
folgen. Denn ein Fürstenthum ist ein Haufen Flecken, Städte und Länder,
ein Königreich ein Haufen Fürstenthümer. Diese alle spinnen sich aus
einzelnen Häusern. Wo nun Vater und Mutter übel regieren, da kann
weder Stadt, Markt, Dorf, Land, Fürstenthum, Königreich und Kaiser¬
thum wohl und friedlich regiert werden. Denn aus dem Sohn wird em
Hausvater, em Richter, Bürgermeister, Fürst, König, Kaffer, Prediger,
Schulmeister u. s. w. Wo er nun übel erzogen ist, werden die Unter-
ihanen, wie der Herr, das Haupt, wie die Gliedmaßen. Darum hat Gott
als am nöthigsten angefangen, daß man im Hause wohl regiere. Denn
wo das Regiment im Hause wohl und rechtschaffen geht, ist den andern
wohl gerathen. — Darum soll ein Vater sein Kind wie ein Richter strafen,
lehren wie ein Doktor, ihm vorprediFen wie ein Psarrherr oder Bischof.
Will ein Jeder Hans Obenan sein,
Jst's aus nlit dem Fried, und Hader kehrt ein. —
Süßer Sang hat manchen Vogel betrogen. — (dt. M. Luther.)
7, Wohlthätigkeit.
§. 1. „Die armen, unglücklichen Menschen!" sprach Alwine zur
Frau Hold, ihrer Mutter. „Du solltest sie sehen! Vierzehn Meilen
weit sind sie vor dem Feinde geflohen. Er soll sengen, brennen und
plündern, wohin er kommt."
§. 2. „Ach, meine Tochter!" versetzte Frau Hold, „der Krreg
ist eines der größten Uebel, das die Menschheit drückt. Du hast Recht,
daß du die armen Geflüchteten bedauerst; Theilnahme an dem Unglück
anderer geziemt einem guten, frommen Herzen."
$. 3. „Liebe Mutter," sprach Alwine, „ich habe wenig Geld;
aber das wenige will ich den Unglücklichen geben; du erlaubst es doch,
daß ich auch altes Linnen zusammensuche und den Armen bringe? Ihre
Kleider sind ganz zerifs^."