Object: Für die Präparandenanstalt (Teil 1, [Schülerband])

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Prosa. C. Sagen. 
Tod beweinen!" Weil Psyche selbst ohne Falsch war, hatte sie von der Tücke 
ihrer Schwestern keine Ahnung. Sie erschrak, dennoch wollte sie nicht glauben, 
daß die sanften Worte, welche sie so oft gehört, aus dem Rachen eines Un¬ 
geheuers kämen, aber die Schwestern betörten sie mit listigen Reden, und 
am Ende glaubte sie ihnen. Und sie wußte nicht, wie sie dem schrecklichen 
Tod entfliehen sollte; da sagte die älteste Schwester: „Noch gibt es ein Mittel, 
dein Leben zu retten. Fasse Mut, und in der nächsten Nacht, wem: das Un¬ 
geheuer schläft, gehe mit der Lampe und einem scharfen Messer an sein Lager 
und stich ihm das Messer ins Herz." Heimlich aber dachte sie, wenn Psyche 
wider das Verbot ihren Gemahl sähe, würde ihr Glück ein Ende haben. Und 
die bösen Schwestern ließen nicht ab, bis die arglose Psyche sich entschloß, 
ihrem Rate zu folgen. Darauf nahmen sie von den Kleinodien, so viel sie 
tragen konnten, und Psyche rief dem Windgott, der trug sie auf den Felsen 
zurück. Als es dunkel geworden, kam ihr Gemahl, aber ihr graute vor ihm, 
und sie konnte auf seine freundlichen Reden kaum antworten. Nun war es 
Mitternacht, und ihr Gemahl lag in tiefem Schlafe; da zündete sie eine Lampe 
an, ergriff ein Messer und begab sich an sein Lager, um ihn zu töten. Aber 
wie der Schein der Lampe auf das Lager fiel, sah sie nicht ein Ungeheuer, 
sondern den geflügelten Liebesgott Eros selbst, prangend in göttlicher Schön¬ 
heit. Das Messer fiel ihr aus der Hand, und sie konnte sich an seiner herr¬ 
lichen Gestalt nicht satt sehen. Aber sie neigte die erhobene Lampe, und ein 
Tropfen heißen Ols fiel auf seine Schulter und erweckte ihn. Er schlug die 
Augen auf und sah Psyche mit der Lampe über ihn gebeugt. Da wurde er 
sehr traurig und sprach: „Du hast mein Gebot übertreten, meines Bleibens 
ist nicht mehr hier. Ich bin Eros, du hast es erraten. Meine Mutter Aphro¬ 
dite zürnt dir und befahl mir, Liebe zu dem unwürdigsten aller Menschen: 
in dein Herz zu flößen. Als ich dich aber sah, wurde ich selbst üou Liebe er¬ 
füllt und beschloß, dich heimlich zur Gemahlin zu nehmen. Nur im tiefsten 
Geheimnis durste ich wagen, ihrem Willen zuwider zu handeln. Du hast 
nun mein Verbot übertreten, ich muß dich auf immer verlassen." Wie er 
dies gesagt, ergriff er Bogen und Köcher, die an dem Lager lehnten, und 
flog davon. 
Psyche empfand die bitterste Reue und wollte nicht länger leben. Als 
es Tag wurde, ging sie an den Fluß und warf sich hinein. Aber der Flu߬ 
gott mochte solche Schönheit nicht töten, er trug sie auf seinen Wassern an 
das andere Ufer und setzte sie dort nieder. Die Vögel zwitscherten in den 
Bäumen, und die Morgensonne schien so freundlich ans Fluß und An, da 
regte sich eine leise Hoffnung in ihrer Seele. Sie dachte: „Wie? wenn es 
mir dennoch gelänge, ihn wieder zu gewinnen? Sagt man doch, daß er 
der freundlichste aller Götter sei. Ich will ausziehen und ihn über den ganzen 
Erdkreis suchen." Und sie machte sich auf und achtete nicht des rauhen Weges 
und nicht der stechenden Sonne; sie wanderte alle Straßen der Welt, um seine 
Spur zu finden.
	        
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