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schlimmert als verbessert, und die zur Hebung dieses Uebelstandes theo¬
retisch vorgeschlagenen und auch zum Theil praktisch ausgeführten Ge¬
genmittel der Socialisten, Kommunisten und anderer Systematiker zeig¬
ten sich wirkungslos. Dieser sich immer steigernde Pauperismus und
die geistigen Kämpfe auf dem Gebiete der Religion ließen den Tieser-
blickenden eine neue Sturmperiode befürchten, wenigstens mußte man
sich gestehen, daß Europa in einer Entwickelung begriffen ist, die von
den entschiedensten Folgen sein muß, wenn sie erst zu Ende gebracht
sein wird.
75.
Wie Februarrevolution und ihre Folgen.
In politischen Dingen geht es oft wie in der Natur. Dem aus¬
brechenden Sturme gehen Anzeichen vorher für den Wetterkundigen; es
zeigt sich ein einzelnes Gewölk; es kommen Sturmvögel in Gegenden,
wo sie sonst nicht gesehen werden. Der kundige Schiffer beachtet diese
Vorzeichen und richtet sich danach ein. In Europa gab es solche kun¬
dige Schiffer, die das Staatsschiff leiten sollten, aber nicht. Die Vor¬
zeichen des Sturmes waren die Bewegungen auf dem Gebiete der
Kirche. In Preußen hatte der Streit über die gemischten Ehen zwi¬
schen dem Erzbischof von Köln, Droste von Vischering, und der Re¬
gierung die Gemüther aufgeregt und in Spannung erhalten; in der
Schweiz gab es einen noch heftigern Kampf zwischen den Römischge¬
sinnten und den Freisinnigen, der zu dem Sonderbundskriege führte.
1846 Auf Roms Thron saß seit 1846 Papst Pius IX., ein Ätann des
Fortschritts, von großer Milde und Leutseligkeit, ein Mann, der die
Wünsche so vieler Italiener, ihr Vaterland in einen Staat umzubilden,
zur Wirklichkeit bringen zu wollen schien. Sein Name wurde durch
ganz Italien, Sardinien, Frankreich und Deutschland gefeiert, gab
aber auch Veranlassung zu Unruhen in fast allen Staaten Italiens.
Er wurde später von seinen undankbaren Unterthanen verjagt; das
römische Gebiet wurde zur Republik erklärt, seine Herrschaft aber von
einem französischen Heere ihm zurückerobert, das seine Staaten noch
besetzt hält. In Frankreich zeigte sich in den höhern Regionen eine
große Verderbniß und namentlich Bestechlichkeit der niederen wie der
höheren Beamten, so daß alle politische Parteien von dem Gefühl
durchdrungen waren, das Regierungssystem müsse geändert werden.
Der Ruf nach einer Wahlreform wurde immer lauter; man ordnete
in allen Gegenden Frankreichs Reformbankete an, und wollte auch
ein solches in Paris, wo die Kammern eben versammelt waren, veran¬
stalten und ihm als Ausdruck der Volksgesinnung eine besondere Be¬
deutung geben. Die Regierung suchte dies auf alle Weise zu verhin¬
dern. Das Volk von Paris wurde immer aufgeregter; Schaaren von
Arbeitern, Studenten, Zöglinge der polytechnischen Schule, Blousen-
männer, Straßenjungen verlangten auf ihrem Zuge durch die Straßen
die Absetzung des Ministers Guizot und die Reform. Immer zahl¬
reicher sammelte sich das Volk in der Nähe des Deputirtenhauses und