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thum und die Blüthe der Provinzen des Reiches, die gewaltige Kriegs¬
macht der Kaiser in der Nähe gesehen, und ihren Erzählungen lauschten
daheim voll Verwunderung die Männer, welche ihren Fuß noch nicht
über Rhein und Donau gesetzt hatten.
Nicht ohne ein peinigendes Gefühl seiner Dürftigkeit und Be¬
schränktheit sah der Germane die Herrlichkeit der römischen Welt.
Es lockte ihn der Siegesruhm der kaiserlichen Heere, mit Neid
schaute er auf die üppigen Saatfelder Galliens, auf die blühenden
Städte, die in den Rhein- und Donaugegenden entstanden. Die Ge¬
nüsse eines schwelgerischen Lebens verführten auch seine Sinne.
Aber stärker als alle Verführungskünste war doch die Freiheits¬
liebe der Germanen. Ob sie mit der Schwelgerei und dem Luxus
Roms auch vertrauter wurden, sie blieben im ganzen ihren einfachen
Sitten treu. Daß diese schlichten Barbaren so hartnäckig die Frei¬
heit dem glänzenden Loose vorzogen, das ihrer unter Roms Herr¬
schaft wartete,*) war den Römern nicht minder ein Wunder als
den Germanen Roms Größe und Macht.
Voll Staunen erzählt ein römischer Schriftsteller,' der im ger¬
manischen Lande gewesen war, von den Wohnsitzen der Chauken.
Die Meeresfluth überschwemme das Land dort weithin, die
Hütten der Menschen stünden auf Erdhügeln, wo sie ihr Leben dahin¬
brächten Seefahrern gleich, wenn die Fluth eintritt, und Schiffbrü¬
chigen gleich, wenn sie zurückweicht; er berichtet, wie diese Menschen
sich nicht einmal Vieh halten könnten, da weitumher kein Strauch
gedeihe, und sie sich deshalb allein von Fischen nährten, die sie in
schlechten Netzen, aus Schilf und Sumpfgras geflochten, einfingen,
während Regenwasser ihr einziges Getränke sei. „Unb wenn diese
Menschen" — ruft er aus — „von dem römischen Volke unterworfen
werden, so klagen sie über Sklaverei. Ja fürwahr! viele schont das
Geschick nur zu ihrer Strafe!"
Aber es gab in Nom einen tieferblickenden Mann. Obwohl Römer
durch und durch, fühlte er mit den Germanen und begriff es, wes¬
halb sie die Armuth der Freiheit mit dem blendenden Glanze der
Sklaverei nicht vertauschen wollten. Es war Cornelius Tacitus, der
tiefen Geistes durchschaute, wie mit der erstorbenen Freiheit allem täu¬
schenden Scheine zum Trotz dieGrundfesten des römischen Staates er¬
schüttert seien. Er war es, der unaufhörlich seine Blicke und die
Gedanken seiner Zeitgenossen auf dieses jugendliche Kriegervolk der
freien Germanen lenkte, das in Schlichtheit und Einfalt der Sitten
aufwuchs. Er zeigte seinem Volk, wie diese durch dieselben Tugenden
stark seien, die einst Rom zu seiner Größe erhoben hatten und die
nun in Lüsten und sklavischer Kriecherei verkämen. Er sah schaudernd
*) Siehe die Spartaner Nr. 204.