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unterstützte. Die freisinnigen Deutschen dagegen schlossen sich dann zur
„Vereinigten Linken“ zusammen, welche die Regierung bekämpfte. So voll-
zog sich also ein vollständiger Systemwechsel.
Um sich die Unterstützung der Majorität für die Dauer zu sichern,
mußte ihr Graf Taaffe politische und nationale Zugeständnisse machen. Solche
waren insbesondere die Sprachenverordnungen des Justizministers Stremayr,
die für Böhmen und Mähren die Doppelsprachigkeit im Verkehr der Gerichte
und Ämter mit den Parteien festsetzten, die Teilung der Prager Universität
in eine deutsche und eine tschechische, eine Schulgesetznovelle, die Er-
leichterung bezüglich der achtjährigen Schulpflicht gestattete. Als Taaffe den
Versuch machte, die Deutschen und die Tschechen zu versöhnen, fand er bei
den ersteren und einem Teile der Tschechen, den „Alttschechen“, Entgegen-
kommen, während die radikale Partei der „Jungtschechen“ die abgeschlossene
Vereinbarung verwarf. Als es dann zu heftigen nationalen Kämpfen kam,
trat die Regierung mit dem Plane der Erweiterung des Wahlrechtes hervor.
Auch in Österreich hatte sich infolge des Aufblühens der Industrie die
Zahl der industriellen Arbeiter stark vermehrt. Sie nahmen die sozialistischen
Lehren auf und wurden von ihren Führern als politische, internationale Partei
organisiert. Diese Sozialdemokraten traten mit verschiedenen Forderungen
auf. So verlangten sie auch das allgemeine, gleiche Wahlrecht für alle Ver-
tretungskörper. Das Ministerium Taaffe brachte zunächst Gesetze zum Schutze
und zur Unterstützung der Arbeiter (sozialpolitische Gesetze) zustande: Es
wurden Gewerbeinspektoren bestellt, welche die Aufsicht über die gewerblichen
und industriellen Betriebe zu führen haben, ein Unfallversicherungs- und ein
Krankenkassengesetz beschlossen. Da Taaffe der Meinung war, daß die natio-
nalen Kämpfe beseitigt oder wenigstens gemildert werden würden, wenn auch
der Arbeiterschaft Anteil an der Gesetzgebung zustünde, legte er dem Ab-
yeordnetenhause im Oktober 1893 einen Wahlgesetzentwurf vor, der jedem
volljährigen, des Lesens und Schreibens kundigen Staatsbürger, falls er eine
direkte Steuer entrichtete, in der Städte- und Landgemeindekurie das Wahl-
recht verlieh. Die Kurien der Großgrundbesitzer und der Handels- und Ge-
werbekammern sollten nach diesem Entwurfe unverändert bleiben. Da auch
ein großer Teil der „Rechten“ mit dieser Änderung des Wahlgesetzes nicht
einverstanden war und der Regierung seine Unterstützung entzog, sah sich
Taaffe 1893 genötigt, von seinem Amte zurückzutreten.
Die Finanzverhältnisse hatten sich in der Ära Taaffe gebessert: dem
Finanzminister Dunajewski gelang es, allerdings zumeist durch bedeutende
Erhöhung der indirekten Steuern, das Defizit zu beseitigen und sein Nach-
folger Steinbach führte 1892 die Goldwährung ein.
Die auswärtige Politik leitete von 1881 bis 1895 der Minister Kalnoky
Italien, wo 1878 König Humbert seinem Vater Viktor Emanuel in der Re-
gierung gefolgt war, strebte den Anschluß an das Öösterreichisch-deutsche
Bündnis an, weil es sich von Frankreich, das Tunis besetzt und damit das
Überzewicht im westlichen Mittelmeere errungen hatte, bedroht glaubte, und