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320. Die wandelnde Glocke
Es war ein Kind, das wollte nie Die Glocke kommt gewackelt.
Zur Kirche sich bequemen, Sie wackelt schnell, man glaubt es
Und Sonntags fand es stets ein Wie, kaum;
Den Weg ins Feld zu nehmen Das arme Kind, im Schrecken,
Die Mutter sprach: Die Glocke tönt, Es läuft, es kommt als wie im
Und so ist dir's befohlen, Traum;
Und hast du dich nicht hingewöhnt, Die Glocke wird es decken.
Sie kommt und wird dich holen. Doch nimmt es richtig seinen Husch,
Das Kind, es denkt: Die Glocke hängt Und mit gewandter Schnelle
Da droben auf dem Stuhle. Eilt es durch Anger, Feld und Busch
Schon hat's den Weg in's Feld gelenkt, Zur Kirche, zur Kapelle.
Als lief es aus der Schule. Und jeden Sonn- und Feiertag
Die Glocke, Glocke tönt nicht mehr, Gedenkt es an den Schaden,
Die Mutter hat gefackelt. Läßt durch den ersten Glockenschlag
Doch welch ein Schrecken! Hinterher Nicht in Person sich laden.
v. Goͤthe.
321. Der gesegnete Kirchgang.
In einem Dorfe wohnte eine Witwe mit fünf Kindern, die
war sehr arm und ernährte sich kümmerlich mit ihrer Hände Arbeit.
Es gelang ihr anfangs zwaͤr wohl, und sie konnte jährlich von
ihrem Felde ziemlich einernten; am übrigen Hausbedarf fehlte es
auch nicht gaͤnzlich. Aber eines Jahres mißrieth die Frucht, dazu
starb ihre einzige Kuh, so daß sie in große Noth kam mit ihren
fünf Kindern. — Da ward sie sehr mißmüthig und sprach: „Betteln
mag ich nicht, Arbeit und Fleiß nüten mir nichts, es wäre mir
besser, ich stürbe!“ Als sie so da saß in ihrem Kummer, hörte sie
von Ferne das Geläute aus dem Dorfe. Das war ihr ein erquicken—
des Getön; denn sie dachte: „So wird man auch mir bald zu Grabe
läuten!⸗
Darauf trat ihr Mägdlein in die Kammer und sprach: „Muttet,
sie läuten im Dorfe. Willst du nicht zur Kirche gehen? Ich will
des Hauses wohl hüten!“ — So sprach das Mägdlein, ihre Tochter;
denn die Mutter pflegte alle Sonntage zur Kirche zu gehen und
fröhlicher heimzukehren. Darum dachte sie bei den Worten ihres
Kindes: „Warum sollt' ich nicht auch heute hingehen in den bösen
Tagen, wie ich in den guten gethan habe?“ So ging sie, obwohl
mit schwerem Herzen, zur Kirche und setzte sich hinter einen Pfeiler,
denn sie schämte sich ihres Unmuths. Darauf, als das Lied an—
fing, vermochte sie kaum mitzusingen vor heimlichem Weinen, und
sie konnte ihre Thränen kaum verbergen. Und als der Pfarrer von
der Liebe und Güte Gottes redete, war ihr ein jedes Wort erwecklich
und rührend. — Als nun die Kirche aus war, ging sie mit
demüthigem Herzen getröstet nach Hause und sagte: „Hab ich doch
das Meinige gethan, so wird ja auch wohl der Vater es wohl