Full text: Österreichische Vaterlandskunde für die oberste Klasse der Mittelschulen

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60. Die Mauersteine. 
Ein Maurer war eben beschäftigt, eine tüchtige Mauer aufzuführen, und 
nahm von den angefahrenen Steinen einen nach dem andern zur Hand. Die 
Steine ließen sich ruhig in die Schichten einfügen, denn sie wußten, es könne 
cinmal nicht anders fein, wenn aus ihnen eine Mauer werden solle. Jetzt 
aber faßte er endlich einen, der fing in seiner Hand eine Predigt an über die 
Freiheit. „Höre, Meisler Maurer,“ rief er, „das leide ich nicht, mich da so 
einzwängen zu lassen; du mußt mir Raum geben, mich zu bewegen!“ — 
„Und höre du,“ versetzte der Maurer, „wofür hälst du dich denn?“ — 
Wunderliche Frage! Für einen Mauerftein, für nichts mehr und nichts 
weniger.“ — „Du willst also, daß ich dich mit zur Mauer nehme?“ — 
„Das versteht sich!‘ sprach der Stein. „Nun, und doch willst du dir die 
Schranken nicht gefallen lassen, in die du dich fügen mußt, wenn du das sein 
willft wofür du dich ausgibst? Das ist doch lächerlich. Nun, frisch, besinne 
dich, denn es ist hohe Zeit!“ sprach der Maurer, noch immer den Stein in 
der Hand haltend. „Willst du zur Mauer dienen, so nimm deinen Platz 
ein.“ — ‚ Nun ja, aber meine Freiheit muß ich haben.“ — „Die sollst du 
auch haben; sie wird darin bestehen. daß du ungestört in der Mauer liegst 
Und deinen Platz behauptest.· — „Geh' mir mit deiner einfältigen Freiheit,“ 
erwiderte der Stein; „ich muß mich bewegen können, dabei bleibt's.“ — „Nun 
so kann ich dich nicht brauchen; mache, was du willst!“ — Ei so will ich 
denn lieber auf diesem freien Platze liegen, da hab' ich doch den Genuß meiner 
Freiheit.“ — Der Maurer tat ihm den Gefallen und warf ihn zum Genusse 
der gewünschten Freiheit von sich. 
Da lag nun der liebe Stein im Genusse seiner gewünschten Freiheit. 
Eine Zeitlang ging's gut. Als aber die Stürme des Herbstes den Staub 
aufregten und Regengůsse kamen, da ward der Stein mit Schmutz bedeckt, 
daß man ihn kaum noch sehen konnte. Endlich weichte die Erde auf und 
gab der Last des Steines nach. Allmählich versank dieser und ward endlich 
ganz zertreten. Zum Glücke war's auch zur Rückkehr zu spät, denn die 
Mauer war ohne ihn fertig geworden, und der Maurer war fort. 
Ja, die Mauer war ferng ohne diesen Stein; aber so ganz ruhig war's 
nach seinem Hintritte doch nicht vorwärts gegangen. Einem andern Steine 
taugte die Stelle nicht, die ihm der Maurer in der Schicht anweisen wollte. 
„Nein, Maurer,“ rief er, „da vorn an der Ecke will ich liegen!· — „Da 
kannst du nicht liegen,“ erwiderte der Maurer, „siehst du nicht, daß der Platz 
schon besetzt ist?“ — „Das sehe ich wohl,“ war die Antwort; „aber was 
jener Stein ist, bin ich auch, und wir sind gleich· — „Das seid ihr auch 
und sollt es sein,“ versetzte der Maurer; „aber eben darum hat jener das 
Recht, liegen zu bleiben, wo er einmal liegt. Nun entschließe dich! Willst 
du, daß ich dich zur Mauer nehme, so rede!“ — „Ja, ich will,“ war die 
Antwort, „aber, wie gesagt, da vorn an der Ecke will ich liegen, denn das 
Recht der Freiheit lasse ich mir nicht nehmen.“ — „Das soll dir ja nicht 
genommen werden; eine Gleichheit besteht nicht darin, daß ihr alle Ecksteine, 
fondern darin, daß ihr alle Mauersteine seid. — „Hal was ist das für eine 
lende Gleichheit, die du da predigst!“ schrie der Stein; „bring mich an die 
Ecke oder baue deine Mauer ohne mich!‘ — „Das letztere kann geschehen,“ 
sagte der Maurer gelassen; „da reise hin, Gleichheitsbruder, zum Herrn 
Freiheitsbruder!“
	        
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