Full text: [Teil 1 = Mittelstufe, [Schülerband]] (Teil 1 = Mittelstufe, [Schülerband])

138 — 
schließt sie heftig in seine Arme und ruft: „Friederike, kennst du denn deinen 
Bruder nicht mehr?“ Und es war so; die Geschwister hatten sich in 28 Jahren 
nicht mehr gesehen, und der Verwundete wußte recht gut, wo seine Schwester 
wohnte, und hatte, seinem Bataillon vorauseilend, sich das Quartierbillet auf ihr 
z Haus geben lassen. Danach gab es fröhliche Ostern, und der Herr Doktor 
brauchte nicht mehr nach dem Verband zu sehen, die Schwester besorgte es mit 
liebenden Händen, und der Major zog erst nach mehren Wochen gen Frankreich 
und von da nach Holland und von Holland als Gouverneur nach Batavia und 
schrieb noch gar ost und liebevoll; und die Kinder des Hauses hatten große 
Freude an dem Spiegel mit dem schönen niederländischen Wappen. Aber es 
kam ein Brief zuletzt, und das Wappen war dasselbe, das Siegel jedoch schwarz, 
und zu der Hausfrau, die um des fernen Bruders Tod bitterlich weinte, sprach 
ihr Mann: „Wir sehen ihn wieder, wenn der Krieg aus ist und rechter Friede 
wird, und brauchst ihm auch dann keinen Verband anzulegen, sondern es ist 
15 alles Heil und Heil!“ 
210. Africhtigkeit. 
aspari.) 
Ein Fürst ging einmal auf ein Galeerenschiff, um die Gefangenen zu 
sehen, die auf demselben wegen ihrer Verbrechen, in Ketten geschmiedet, arbeiteten. 
20 Es jammerte ihn ihre schwere Strafe, und er nahm sich vor, wenigstens einem 
davon die Freiheit zu schenken. Er wollte aber erst untersuchen, welcher unter 
ihnen der würdigste wäre. Deswegen fragte er einen nach dem andern, warum 
er hier wäre. Da ging nun das Klagen und Lamentieren an. Jeder sagte, 
er wäre eigentlich der ehrlichste und unschuldigste Mensch von der Welt; böse 
25 Leute hätten ihn bei der Obrigkeit verleumdet, und so sei er an diesen Ort 
gekommen. Jeder bat, der Fürst möchte sich doch seiner erbarmen und ihm 
die Freiheit schenken. Endlich kam der Fürst auch zu einem noch ganz jungen 
Gefangenen und fragte ihn: „Was hast denn du gethan, daß man dich hierher 
gebracht hat?“ — „Gnädiger Herr, ich bin ein gottloser Bube gewesen. Ich 
habe meinem Vater und meiner Mutter nicht gefolgt, bin ihnen davon gelaufen, 
hab' ein liederliches Leben geführt, gestohlen und betrogen; ich müßte ein paar 
Stunden Zeit haben, wenn ich alle die bösen Streiche erzählen wollte, die ich 
mein Lebenlang begangen habe. Endlich ist mir mein Recht geworden, und gern 
will ich meine Strafe leiden; denn ich weiß, daß ich sie tausendmal verdient 
z5 habe.“ — Der Fürst wußte wohl, daß sie alle ihre Strafe verdient hatten; aber 
er sagte lächelnd: „Wie kommt denn ein so abscheulicher Mensch unter diese 
achtbare Gesellschaft? Geschwind, nehmt ihm die Ketten ab und jaget ihn augen— 
blicklich hinaus, damit er nicht etwa gar diese ehrlichen Leute auch noch ver— 
führe!“ Sogleich wurde er von seinen Ketten erlöst und in die Freiheit gesetzt. 
211. Warum? 
Garl Stöber.) 
Zu Hamburg auf einem Platz standen einmal zween Arbeiter, und wer sie 
sah, dachte an des Herrn Wort: Um die elste Stunde aber ging er aus und 
fand andere müßig stehen am Markt und sprach zu ihnen: „Was stehet ihr hier
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.