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15 Und nicht zu lesen! — deutlich noch zu sehen
Der Tritte Spur, die sie verlöschet fast;
Es scheint ein Pfad darüber hin zu gehen.
16 Und dort am Abhang war ein Ort der Rast,
Dort nahm er Nahrung ein, dort Eierschalen;
Wer war, wer ist der grausen Wildnis Gast?
17 Und spähend, lauschend schritt ich auf dem kahlen
Gesims') einher zum andern Felsenhaupte,
Das zugewendet liegt den Morgenstrahlen.
18 Und wie ich, der ich ganz mich einsam glaubte.
Erklomm die letzte von den Schieferstiegen,
Die mir die Ansicht von dem Abhang raubte:
19 Da sah ich einen Greisen vor mir liegen,
Wohl hundert Jahre, möcht' ich schätzen, alt,
Des Züge, schien es, wie im Tode schwiegen.
20 Nackt, langgestreckt die riesige Gestalt,
Von Bart und Haupthaar abwärts zu den Lenden^)
Den hagern Leib mit Silberglanz umwallt,
21 Das Haupt getragen von des Felsen Wänden,
Im starren Antlitz Ruh, die breite Brust
Bedeckt mit übers Kreuz gelegten Händen.
22 Und wie entsetzt, mit schauerlicher Lust
Ich unverwandt das große Bild betrachte.
Entflossen mir die Tränen unbewußt.
23 Als endlich wie aus Starrkrampf ich erwachte,
Entbot ich zu der Stelle die Gefährten,
Die bald mein lauter Ruf zusammenbrachte.
24 Sie lärmend herwärts ihre Schritte kehrten
Und stellten bald verstummend sich zum Kreis,
Die fromm die Feier solchen Anblicks ehrten.
25 Und seht, noch reget sich, noch atmet leis.
Noch schlägt die müden Augen auf und hebt
Das Haupt empor der wundersame Greis.
*) Gesims oder Sims — vorstehender Rand an einer Mauer, einer Wand u. dgl.
2) Kreuz- oder Hüftgegend.