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V. Blumenlese aus der poetischen Literatur der Neuzeit.
Gustav Jalke.
266. Der Frühlingsreiter.
Um Mitternacht
Bin ich jäh erwacht,
Hufschlag hallte, ein Horn erklang,
Daß ich erschreckt ans Fenster sprang.
Der Mond schien hell,
Und da kam es zur Stell':
Ein Schatten voraus, dann ein milchweiß Roß,
Darüber des Mondes Silber floß^
Und ein Reiter ganz jung einen blauen Kranz
Im Gelock. Hell blitzte des Hornes Glanz
In der Faust, und er stieß in das Horn hinein,
Als sollte und müßte geblasen sein.
O, war das ein Klang
In dem Horngesang!
Eine süße Kraft, eine blühende Kraft,
Eine zitternde, quellende Leidenschaft,
Ein Herz und ein Jubel, ein seliger Schrei!
Ein Klingen, ein Leuchten — da war es vorbei.
Hatte mich ein Traum betört?
Nicht einer hatte den Reiter gehört,
Sie lachten mich alle ani Morgen aus:
„Da kommt der Träumer, der Dichter heraus."
Aber mein Töchterchen kam mit Hurra:
„Seht mal, die ersten Veilchen sind da!
Und ich glaube, auch Krokus und Narzissen
Kommen schon." — Was wollt' ich noch wissen?
Ich lächelte nur und sagte: „Ja, ja,
Ich weiß, die Veilchen sind wieder da."
267. Die feinen Ohren.
(Meiner Mutter.)
Du warst allein,
Ich sah durchs Schlüsselloch
Den matten Schein
Der späten Lampe noch.
Was stand ich nur und trat nicht ein?
Und brannte doch,
Und war mir doch, es müßte sein,
Daß ich noch einmal deine Stirne strich
Und zärtlich flüsterte: „Wie lieb' ich dich!"
Die alte böse Scheu,
Dir ganz mein Herz zu zeigen,
Sie quält mich immer neu.