Mittelalter und Neuzeit.
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entwickelt. Aber sie war freilich auch aus einer Erzieherindes Einzel-
menschen dessen Beherrscherin geworden, unter deren Herrschafts-
Mitteln die Beichtpflicht obenan stand: nicht nur beherrschte sie das
religiöse Leben, indem sie allein den Verkehr der Seele mit Gott
vermittelte; sie beherrschte nicht minder das geistige Leben: das wissen-
schaftliche Denken, vor allem die scholastische Philosophie, stand ebenso
wie die Fantasie des Künstlers in ihrem Dienst. Indem sie infolge des
ihr innewohnenden asketischen, weltflüchtigen Zuges alles Weltliche an
sich für ungöttlich erklärte, erkannte sie zu wenig an, daß Institutionen
wie der Staat, das wirtschaftliche Erwerbsleben, die Ehe ihre eigen-
tümliche sittliche Berechtigung und Aufgabe haben. Insbesondere dem
Staat gegenüber erhob sie den Anspruch ihn zu beherrschen; und
sie hat in ihrem Kampfe gegen das Kaisertum ganz besonders dazu
beigetragen den politischen Zusammenhang der deutschen Nation zu
zerstören. Andererseits war die Kirche selbst, seit sie die Weltherr-
schaft gewonnen hatte, stark verweltlicht: die äußeren Interessen
der Macht und der Finanzen waren immer mehr ausschlaggebend
geworden; das kirchliche Leben wurde veräußerlicht, z. B. das Bewußt-
sein von der Notwendigkeit der Buße durch die Ausbildung des Ablaß-
wesens abgeschwächt und erstickt; das unsittliche Leben eines Teiles
der Geistlichkeit, u. a. auch mancher Päpste, gab zu berechtigtem Tadel
Anlaß.
Dem Mittelalter gegenüber wird die Neuzeit durch ein Charakteren
Doppeltes gekennzeichnet. Es ist einerseits das Bestreben die Staats- euäe
gewalt von dem hemmenden Einfluß der mittelalterlichen Bildungen Der^noderne
zu befreien, ihr zur Herrschaft zu verhelfen und ihre Wirksamkeit über 'aa'
immer weitere Gebiete auszudehnen; so hat die Neuzeit den natio-
nalen Kulturstaat geschaffen, zunächst in der Form des Absolu-
tismus. Es ist andererseits das Bestreben das Individuum von Das moderne
den es umgebenden Schranken zu befreien, ihm zur Freiheit des ^nbltitimum-
religiösen Glaubens, des sittlichen Handelns, des wissenschaftlichen
Denkens und künstlerischen Schaffens, endlich des wirtschaftlichen Er-
werbs, kurz zur Entfaltung einer freien Persönlichkeit zu verhelfen.
Dieser individualistische Charakter der neuen Zeit hat zeitweise
zu Ausbrüchen eines ungezügelten Subjektivismus geführt, der keine
objektiven Gesetze für sein Denken und Handeln anerkennen wollte;
auf der anderen Seite aber verdanken wir ihm die Reformation,
welche die Aneignung des Heils anstatt an äußere Veranstaltungen
der Kirche vielmehr an die freie, persönliche Hingebung des Herzens
knüpfte und damit die Entstehung einer neuen Sittlichkeit ermöglichte,
ihm die Entstehung der modernen Wissenschaft, die vorausfetzungs-
los an die Erforschung des Natur- und Geisteslebens heranging, ihm
die Entstehung der vom kirchlichen Zwange befreiten modernen Kunst.