158 B. Beschreibende Prosa. VI. Bilder aus der Natur.
tige Träger des Baumes ragt gleich einer Säule gen Himmel,
aussen mit rauher Borke gepanzert, innen durch festes Holz
gekräftigt. Zwischen Borke und Holz steigen die Säfte hinauf
und hinab, unserm Auge verborgen, aber in ihren Werken uns
sichtbar. Sie bauen nach innen jedes Jahr einen neuen Ring
Holz, verdichten das Holz der früheren Jahre und machen es
fester. Aus dem weichen Splint wird hartes Kernholz. Der
Stamm wird von Jahr zu Jahr dicker. Die Rinde, sein Kleid,
vermag nicht mehr wie früher den Gewaltigen zu umspannen;
sie zerreisst und wird zur rauhen, rissigen Borke. Aber unter
dem alten, morschen Gewände erzeugt sie jedes Jahr ein neues
Kleid, eine neue Schicht Rinde. Der Eichbaum arbeitet nach
aussen ebenso sorglich wie nach innen.
Wie viel Centner Wasser schaffen die Zellen des Stammes
eines Eichbaums im Laufe eines einzigen Jahres hinauf nach
den knorrig gebogenen Asten und vielfach geteilten Zweigen,
nach den zahllosen Blättern, die das überflüssige Nass ver¬
dunstend den Wolken zurückgeben, aus denen es stammte?
Wie viel Centner fester Stoffe tragen sie hinauf in den Baum?
Wiege die ganze Eiche, und du hast wenigstens auf die letzte
Frage eine annähernde Antwort!
Aber kein Teil des Baumes ist müssig. Siehe das Blatt
an, das sich dir grünseiden entgegenstreckt, das mit zahllosen
Genossen das schattige Laubdach des Waldes bildet. Es trinkt
das goldene Sonnenlicht und den erquickenden Nachttau.
Die Tausende kleiner Spaltöffnungen, welche das Vergrösserungs-
glas uns auf der Unterseite des Blattes erkennen lässt, hauchen
die an Lebensstoff reiche Luft aus, die den Aufenthalt im
grünen Walde für uns so behaglich macht. Luftführende
Adern durchziehen es gleich einem Maschennetz und legen
den Grundbau zu seiner zierlichen Form. Wer kennt nicht das
Eichenblatt, dessen schön geschweifter, tief ausgebuchteter
Rand es sofort von allen andern Baumblättern des Waldes
unterscheidet? Und zwischen diesem Adergeflecht liegen die
winzigen Zellen, in denen jene Säfte, die von den Wurzeln her
bis zu ihm aufsteigen, sich geheimnisvoll mischen mit der
Speise, welche das Reich der Luft und des Lichtes ihnen bieten.
Hast du die Blüten des Eichbaums jemals geschaut? Un¬
ansehnlich zwar sind sie, nicht durch Farbenpracht und Grösse
in die Augen fallend, aber doch wunderbar und für das Leben
des Baumes von höchster Bedeutung! Kurz nachdem die
jungen Triebe im lieblichen Maimond sich geöffnet haben,
quellen neben den hellgrünen Blättchen die Staubblüten als