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I. Die Poesie. 183
(z. B. heißt in der Ilias des Hephästos Gemahlin Charis, in der
Odyssee Aphrodite usw.), gefolgert hatten, daß die beiden Epen
unmöglich von einem Verfasser sein könnten (%coQi£ovTEg), ver-
suchte Fr. Aug. Wolf (Prolegomena ad Homerum 1795) den
Nachweis, daß die sog. Homerischen Gedichte überhaupt nicht
das Werk eines einzigen Dichters oder zweier, sondern vieler
Sänger seien und daß die Zusammenfügung der alten Gesänge
zu einem einheitlichen Ganzen erst viele Jahrhunderte später
von den Redaktoren des Peisistratos vollzogen worden sei, —
eineATheorie die von Karl Lachmann weitergebildet wurde,
indem er aus der Ilias die durch spätere Interpolationen ver¬
bundenen 16 ursprünglichen Lieder herauszuschälen unternahm.
Mit dieser Wolfschen Ansicht, der unsere großen Dichter (Goethe
nach anfänglicher Zustimmung; vgl. die Elegie „Hermann und
Dorothea“) widersprachen, begann die Diskussion der Home¬
rischen Frage. Trotz zahlreicher Widersprüche im einzelnen
ist die Wissenschaft heute über die Hauptpunkte zu einer ge¬
wissen Einigung gelangt. Man sieht die Ilias, und ebenso die
Odyssee, weder als das Werk eines einzigen Dichters an noch
als ein Konglomerat von Liedern, sondern als den Niederschlag
einer Jahrhunderte umfassenden Dichtertätigkeit der Aöden, die
in wiederholte Bearbeitungen und Gesamtredaktionen auslief. Der
Hauptsache nach mag die Gestalt der Epen in der zweiten Hälfte
des 9. Jh. festgestanden haben. Die lange Zeit durch mündliche
Überlieferung von Rhapsoden (Deklamatoren) fortgepflanzten Ge¬
dichte erhielten später noch etliche Zusätze und Erweiterungen,
bis sie die Gestalt annahmen, in der wir sie jetzt haben. Die
Überlieferung von der redaktionellen Tätigkeit des Peisistratos
([Pisistratus], qui primus Homeri libros confusos antea sic dis-
posuisse dicitur, ut nunc habemus. Cie. de orat. III, 34, 137)
ist wohl Legende. Die größten Verdienste um die Feststellung
des korrekten Textes erwarb sich der alexandrinische Gehrte
Aristarchos (um 170 v. Chr.).
Ilias und Odyssee bildeten später mit 12 andern Epen, von
denen 3 die Göttergeschichte, 6 den trojanischen Sagenkreis und
die Nosten, 3 die thebanischen Sagen behandelten, den sog.
epischen Kyklos.
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