386 Wanderung in den thüringischen Vorbergen.
Tacitus sagt von unfern Altvorderen: „Colunt diversi ac discreti, ut fons,
ut campus, ut nemus placet." Man sieht, die alten Germanen haben Sinn
gehabt für diese anziehende Verschiedenartigkeit des Bodens, ja sie haben in ihr die
Heimatfähigkeit des Landes erkannt und darum vorzugsweise nach ihr die Wohn-
sitze gewählt. Nun heißt es bei den Naturmenschen: Was den Menschen recht ist,
ist den Göttern billig; die Götter werden nach dem Menschenbilde geschaffen und
auch nach Menschenart gedacht und behandelt. So wohnen und weilen denn auch
die Götter, ut fons, ut campus, ut nemus placet, und noch heutigen Tages
bevölkert der Aberglaube dergleichen Örter im freien Räume vorzugsweise mit
feinen Spukgestalten. Goethe läßt in seinen „Wahlverwandtschaften" Mittler
sagen: „Wir spielen mit Voraussagungen, Ahnungen und Träumen und machen
dadurch das alltägliche Leben bedeutend. Aber wenn das Leben nun selbst
bedeutend wird, wenn alles um uns sich bewegt und braust, dauu wird das
Gewitter durch jene Gespenster nur noch fürchterlicher." Wenden wir das auf
den Raum an, wie wir es dürfen, so haben wir den Grund, warum bei uns
Deutschen Sage und Aberglaube mehr auf der punktierten Ebene als im an und
für sich „bedeutenden" Waldgebirge ihr Wesen treiben. Jene kann es vertragen,
ja sie bedarf es, daß da die göttliche Naturmacht als gegenwärtig und wirkend
markiert wird, während diese im Waldgebirge sich jederzeit fühlbar macht.
Aer Körselöerg und seine Sagen. Wenn man von der Wartburg
aus der Fülle der Eindrücke hinübersieht auf den östlich vorliegenden Hörsel-
berg, wie er sich kahl und grau an der thüringer Bahn dahinzieht, ist man
nicht geneigt zu glauben, daß auch dieser reizlose Berg seinen inneren Reichtum,
seinen Sagenschatz hat. Und doch ist es so, der Naturmythus hat ihn belebt,
wie fast keinen andern Punkt des Thüringer Waldes.
In dem Berge ist eine Höhle, die, wie sie auch entstanden sein mag, dem
Volke als Wohnort der Frau Holle galt. Frau Holle gehört zu den guten
hilfreichen Gottheiten, die sich der guten Menschen gegen die bösen annehmen.
Es war ja ursprünglich die segenbringende germanische Göttin der Ehe und
Fruchtbarkeit. So kennen wir sie auch aus dem Märchen. Aber die Natur-
kräste können mild und heftig, segensreich und verderblich auftreten. Ebenso
die Naturgottheiten, die verkörperten Naturkräfte. So erscheint denn Frau Holle
auch au der Spitze des wütenden Heeres, der wilden Jagd, die sonst von einer
Männergestalt, in der man leicht den Wodan erkennt, angeführt wird. Vor
Frau Holles Höhle, dem „Hörselloch", sitzt der alte „treue Eckart", der, wenn
Frau Holle sich zum Jagen erhebt, dem Zuge warnend vorausschreitet.
Offenbar haben wir in Frau Holle eine „bergentrückte" Gottheit vor uns,
vielleicht die Freia. Bisweilen aber durchbricht sie mit entfesselter Naturkraft
die Entrückung, die Verzauberung, und das ist denn ihre wilde Jagd. Es ist,
als habe sich die Heidengöttin vor der Übermacht des Christentums oder der ver-
folgenden Priester in die Berghöhle geflüchtet. Auch der alte Barbarossa, mit dem
eigentlich der gegen die päpstliche Übermacht kämpfende Kaiser Friedrich II. gemeint
ist, muß verzaubert schlafen, bis die Raben, d. h. die Priester, abgezogen sind.
Aber auch innerhalb ihres Zauberberges hat man der Göttin keine Ruhe
gelassen. Der mönchische Gedanke, daß das Weib die Verführerin von Anfang
sei, ist ihr nachgefolgt und hat aus ihr die Frau Venus gemacht, die an sich