Full text: Lesebuch zur Geschichte des 19. Jahrhunderts

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5. Der Hannoversche Staatsstreich. 
Karl Biedermann. 30 Jahre deutscher Geschichte. Breslau 1896. 
Rber nicht bloß Eisenbahnen und Zollverein, auch ein direkt politisches 
Ereignis sollte noch im Laufe der dreißiger Jahre dazu beitragen, den 
Einheitsgedanken im deutschen Volke zu wecken und zu stärken, indem 
es den Mangel einer solchen Einheit und dessen schädliche Folgen allen 
sichtbar und fühlbar machte. Es war das der hannoversche Staatsstreich 
vom Jahre 1837. 
Hannover war seit der (Erhebung der jüngeren braunschroetgtschen 
Linie auf den englischen Thron (1714) als eine Art von Nebenland Eng¬ 
lands von dort aus regiert worden. 3m Jahre 1837 starb König Wil¬ 
helm IV. von England ohne direkte Nachkommen. Nach englischem Hecht 
folgte ihm auf den Thron der vereinigten drei Königreiche seine Nichte, 
die (Tochter seines Zweitältesten Bruders, des Herzogs vonKent, die noch jetzt 
regierende Königin Viktoria (f 1901). Das deutsche Staatsrecht schließt 
aber Frauen von der Regierung aus, und so ging Hannover an den männ¬ 
lichen Sproß einer jüngeren Linie des englischen Königshauses, den Herzog 
von (Tumberland, Ernst August, über. Hannover ward dadurch wieder ein 
selbständiges, von England unabhängiges, von eigenen Fürsten regiertes 
Land. 
Der neue König erklärte alsbald nach seiner Thronbesteigung, daß 
er die 1833 in Hannover eingeführte Verfassung nicht als zu Recht be¬ 
stehend anerkenne, weil sie nicht, wie hätte geschehen müssen, ihm, als 
Thronfolger, zur (Benehmhaltung vorgelegt worden sei. Er vertagte die 
nach dieser Verfassung gewählte Standeversammlung und berief sie nicht 
wieder, so daß, als dann am 1. November 1837 die förmliche Aufhebung 
der Verfassung durch einen Machtspruch des Königs erfolgte, das Land 
kein gesetzlich anerkanntes Organ zur Vertretung feiner Rechte besaß, ver¬ 
gebens wandten sich eine Anzahl einzelner Mitglieder der bisherigen 
Ständeversammlung, vergebens auch die angesehensten städtischen Körper- 
fchaften an den Bundestag, dessen Einschreiten zugunsten der aufgehobenen 
Verfassung erbittend. Zwar besagte Artikel 56 der Wiener Schlußakte, 
eines der beiden Grundgesetze des Deutschen Bundes, mit klaren Worten: 
„Die in anerkannter Wirksamkeit bestehenden landständischen Verfassungen 
können nur auf verfassungsmäßigem Wege abgeändert werden"; zwar 
mahnten einzelne Bundesregierungen, wie die bayerische, an die Pflicht 
des Bundestags, das Recht auch nach oben hin zu schützen: die Mehrheit 
des Bundestags, an ihrer Spitze die beiden absolutistischen Regierungen 
von Österreich und Preußen, und natürlich Hannover selbst, erklärte: der 
Bundestag sei „inkompetent", d. h. nicht befugt, in dieser Sache etwas 
zu tun, weil kein gesetzlich legitimiertes (Drgan zur (Erhebung einer Be¬ 
schwerde im Namen des hannoverschen Volkes vorhanden fei. 
Damit war der Kampf der hannoverschen Verfassungspartei (an deren 
Spitze der hochangesehene Bürgermeister (Osnabrücks, Stüoe, die Advokaten
	        
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