Full text: Neuere Zeit vom Westfälischen Frieden bis zur Gegenwart (Bd. 2)

§ 99. Die Wiedergeburt der Dichtung. 
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7. Johann Gottfried Kerder (1744—1803), aus Ostpreußen ge¬ 
bürtig, war von einem unermüdlichen Eifer für Erziehung und Bildung 
beseelt. Als Prediger und Kirchenvorstand, als Dichter und Kritiker wirkte 
er sein Leben lang für die Förderung einer religiös gestimmten Humanität. 
Vielseitige berufliche Anregung hiezu fand er, seit er durch Verwendung 
seines jungen Freundes Wolfgang Goethe, den er in Straß bürg kennen 
gelernt hatte, 1776 auf das Amt eines Hofpredigers und Oberkonsistorialrats 
(später eines Generalsuperintendenten) nach Weimar berufen worden war. 
Als Schriftsteller erkannte er in der Volkstümlichkeit das innerste Wesen der 
Dichtung, weshalb er mit besonderer Bemühung die Volkslieder aller Länder 
sammelte und übersetzte („Stimmen der Völker in Liedern"), auf den 
dichterischen Gehalt der Bibel hinwies,» die spanischen Romanzen vom Cid um- 
dichtete und das Verständnis für den griechischen Homer, den Altkelten Ossian und 
den Neubriten Shakespeare zu erwecken suchte. Von schöner eigener Erfindung 
sind manche seiner Balladen, Legenden und Parabeln („Erlkönigs Tochter", „Der 
gerettete Jüngling", „Das Kind der Sorge" u. a.). 
8. Die Dichter der Sturm- und Drangzeit. Mit diesem Namen bezeichnet 
man nach einem Drama „Sturm und Drang" von Maximilian Klinger laus dem 
Jahre 1776) eine Gruppe von jungen Dichtern, welche um diese Zeit aus deu neuen 
Lehren von Natürlichkeit und Freiheit, von Gemütsinnerlichkeit und Volkstümlichkeit 
mißbräuchlicherweise eine Berechtigung zu Leidenschaftlichkeit und Regellosigkeit ab- 
geleitet hatten. Diese „Original- und Kraftgenies" konnten nur unnatürliche Zerr- 
bilder hervorbringen und haben zum Teil auch in ihrem sonstigen Leben Schiffbruch 
gelitten. Als Dichter hat sich nur der Schwabe Daniel Schubart einen Namen 
gesichert; doch hat auch er seinen „Tyrannenhaß" durch eine zehnjährige Haft auf 
Hohenasperg (unweit Stuttgart) gebüßt, bis er dank seinem Hymnus „Friedrich der 
Große" wieder in ehrenvolle Freiheit gesetzt wurde (1787). 
Die Pfade der Stürmer und Dränger wandelten in ihrer Jugendzeit auch 
Goethe und Schiller, aber mit einer geistigen Überlegenheit, welche ihnen zur 
rechten Zeit den Ausweg sicherte. 
9. Johann Wolf gang Goethe (1749—1832). Dieser berufenste 
und vielseitigste unserer Dichter und Schriftsteller führte die deutsche Dichtung 
zu ihrer vollen Blüte und erhob sie zur Weltliteratur. Er dankte seine Größe 
ebenso einer ungewöhnlichen geistigen Begabung wie einer besonderen Gunst 
aller Lebensverhältnisse. 
Goethe war geboren in der Reichsstadt Frankfurt a. M. am 28. August 1749 
als Sohn eines wohlhabenden Bürgers und Kaiserlichen Rates. Was er an 
Gaben vom Elternhause mit ins Leben gebracht, sagt er selbst mit den Worten: 
„Vom Vater Hab' ich die Statur, des Lebens ernstes Führen; vom Mütterchen 
die Frohnatur und Lust zu fabulieren". Vielseitig unterrichtet bezog er die Uni- 
versität Leipzig 1765, um Rechtskunde zu studieren, aber schon damals mehr 
der Kunst und Dichtung zugethau. Nach einiger Unterbrechung ging er im 
Frühjahr 1770 nach Straß bürg, wo er mit Herder in einen folgewichtigen 
Freundschaftsverkehr trat und 1771 seine Fachstudien vollendete. Die nächsten 
Jahre verbrachte er behufs juristischer Praxis in Frankfurt und in Wetzlar, 
fühlte sich aber durch eigenartige Lebensumstände immer klarer auf seinen wahren 
Beruf hingelenkt.
	        
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