Full text: Neuere Zeit vom Westfälischen Frieden bis zur Gegenwart (Bd. 2)

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§ 102. Begründung der Konstitution 1789—1791. 
hindern, daß in seiner Umgebung die gewohnte Verschwendung und 
Tatenlosigkeit, in der Verwaltung des Landes die alte Willkür und 
Rechtlosigkeit fortdauerte. . Schuldenlast und Defizit des Staates wuchsen 
von Jahr zu Jahr. Mittlerweile hatte unter dem bedrückten Volke, das 
begierig die Lehren der „Aufklärung" einsog, eine starke Gärung Platz ge- 
griffen. Politische Fehler, wie die Unterstützung der nordamerikanischen 
Provinzen gegen die Monarchie ihres Mutterlandes, verschürften die Lage. 
a) Staatliche WMändc. Unerschwingliche Lasten an Steuern und 
Fronen, an Zöllen unb Zehnten drückten ben Bürger- unb Bauernstand, wogegen 
Miel unb Klerus fast steuerfrei waren, obwohl sie zwei Drittel des Grunb- 
defitzes innehatten; eine elenbe Rechtspflege ließ ber gutsherrlichen Ge¬ 
richtsbarkeit volle Willkür, bie Stellen ber höheren Gerichte oder Parlamente aber 
waren geradezu erblich oder käuflich geworden; der Adel, welchem Besitz und 
Ehren und alle höheren Stellen' in Staat, Heer und Kirche vorbehalten waren, 
lebte zumeist in Trägheit und SittenVerderbtheit.^Hingegen hatten 
Arbeit unb Bilbung bem bürgerlichen Stande allmählich ein moralisches Über¬ 
gewicht verliehen und ihm zugleich gefährliche Waffen gegen seine Bebrücker in 
die Hand gegeben. Noch aber lachte man im Hoftheater zu Versailles über den 
lustigen „Figaro", der feinen gräflichen Herrn fo witzig an der Nase zu führen 
verstand (Lustspiele von Beaumarchais)^ um so bereitwilliger eignete sich die 
große Menge nach ihrer Art die neuen Lehren von politischer, kirchlicher und per- 
sönlicher Freiheit an und schwärmte für Rousseau und für „Rückkehr zur Natur". 
/ b) Politische Wißgriffe. Inmitten 'solcher Gärung, deren Bedeutung man 
nicht genug zu würdigen verstand, machte die Regierung politische Fehlgriffe der 
schlimmsten Art. Nur der ererbten Eifersucht gegen England folgend, schickte das 
monarchische Frankreich seine Truppen nach Amerika, um die dortigen Kolonien 
in ihrem Aufstande gegen das Mutterland zu unterstützen und die Bürger- 
republik aufzurichten (vgl. S. 76). Kein Wunder, daß die rückkehrenden Sieger 
(wie Lafayette) auch in der Heimat eine freiheitliche Staatsordnung ersehnten, 
wie sie dieselbe eben in den Vereinigten Staaten zu begründen mitgeholfen hatten. 
2. Die Berufung der cheneratstände 1789. Im Jahre 1789 
drohte der völlige Bankrott der Staatskasse. Auf Veranlassung des 
Finanzministers Necker, eines vormaligen Bankiers (aus Genf), berief der 
Könia. wie es in früheren Jahrhunderten bei wichtigen Geld- und 
Steuerfragen geschehen war, die sogenannten Generalstände, d. t. ge¬ 
wählte Vertreter des Adels, der Geistlichkeit und der Bürgerschaft, zu 
einer gemeinsamen Beratung über die Notlage des Staates nach Ver- 
sailles (5. Mai 1789). 
In scheinbarem Entgegenkommen hatte man dem Dritten Stande 
(Tiers-etat) 584, den beiden ersten Ständen zusammen 561 Abgeordnete 
bewilligt. Doch wurde das Zugeständnis dadurch wieder hinfällig, daß 
die Abstimmung und Beratung nicht nach der Kopfzahl der Abgeordneten, 
sondern nach den drei Klassen erfolgen sollte.
	        
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