Object: Deutsche Nationalliteratur von den Anfängen bis zur Gegenwart (Band 1, [Schülerband])

173 
— 
Fabeln und Gedanken sein einziges Muster sein läßt.und ein Poet muß dergestalt 
sowohl als ein Maler, Bildschnitzer u. s. w. eine starke Einbildungskraft, viel Scharfsinnig⸗ 
keit und einen großen Witz schon von Natur besitzen, wenn er den Namen eines Dichters 
mit Recht führen will. Doch alle diese natürliche Gaben sind an und für sich selbst 
noch roh und unvollkommen, wenn sie nicht aufgeweckt und von der ihnen anklebenden Un— 
richtigkeit gesäubert werden. . Denn das muß man notwendig wissen, daß es mit Ein— 
bildungskraft, Scharfsinnigkeit und Witz bei einem Poeten noch nicht ausgerichtet ist. Dies 
ist zwar der Grund von seiner Geschicklichkeit, den die Natur legt; aber es gehört zu dem 
Naturelle auch die Kunst und Gelehrsamkeit. KVor allen Dingen aber ist einem wahren 
Dichter eine gründliche Erkenntnis des Menschen nötig, ja ganz unentbehrlich. Ein Poet 
ahmet hauptsächlich die Handlungen der Menschen nach, die von ihrem freien Willen her— 
rühren und vielmals aus den verschiedenen Neigungen des Gemüts und heftigen Affekten 
ihren Ursprung haben. Daher muß derselbe ja die Natur und Beschaffenheit des Willens, 
der sinnlichen Begierde und des sinnlichen Abscheues in allen ihren mannigfaltigen Gestalten 
gründlich einsehen lernen. Sind ferner die Handlungen der Menschen gut oder böse, 
so wird er nicht imstande sein, dieselben recht zu beurteilen, wenn er nicht das Recht der 
Natur, die Sittenlehre und Staatskunst gründlich versteht. . So notwendig nun einem 
Poeten die Philosophie ist, so stark muß auch seine Beurteilungskraft sein. . Außer 
allen diesen Eigenschaften des Verstandes, die ein wahrer Poet besitzen und wohl anwenden 
muß, soll er auch von Rechts wegen ein ehrliches und tugendliebendes Gemüt haben... 
Das III. Kapitel. Vom guten Geschmacke eines Poeten. 
Derjenige Geschmack ist gut, der mit den Regeln übereinkömmt, die von der Vernunft 
in einer Art von Sachen allbereit fest gesetzet worden. Das sicherste Mittel, denselben 
zu erhalten, ist, wenn man sich an die Regeln hält, die uns von Kunstverständigen und 
Meistern der Alten übrig geblieben. .. 
Das W. Kapitel. Von der Fabel. 
.. Die Fabel ist hauptsächlich dasjenige, was der Ursprung und die Seele der ganzen 
Dichtkunst ist. Ich glaube, eine Fabel am besten zu beschreiben, wenn ich sage, sie sei 
die Erzählung einer unter gewissen Umständen möglichen, aber nicht wirklich vorgefallenen 
Begebenheit, darunter eine nützliche moralische Wahrheit verborgen liegt. 
Wie gewinne man aber eine richtige Fabel? 
Zu allererst wähle man sich einen lehrreichen moralischen Satz, der in dem ganzen 
Gedichte zu Grunde liegen soll, nach Beschaffenheit der Absichten, die man sich zu erlangen 
vorgenommen. Hierzu ersinne man sich eine ganz allgemeine Begebenheit, worin eine 
Handlung vorkömmt, daran dieser erwählte Lehrsatz sehr augenscheinlich in die Sinne fällt. 
Nunmehro kömmt es auf mich an, wozu ich diese Erfindung brauchen will, ob ich Lust habe, 
eine äsopische, komische, tragische oder epische Fabel daraus zu machen? Alles beruht hierbei 
auf der Benennung der Personen, die darin vorkommen sollen. Aopus wird ihnen tierische 
Namen geben. .. Wäre ich willens, eine komische Fabel daraus zu machen, Rdie 
Personen müßten hier entweder bürgerlich oder zum höchsten adelig sein, denn Helden und 
Prinzen gehören in die Tragödien. Die Namen würden nur dazu erdacht, und man 
dörfte sie nicht aus der Historie nehmen. . Die Tragödie ist von der Komödie nur in 
der besonderen Absicht unterschieden, daß sie anstatt des Gelächters die Verwunderung, das 
Schrecken und Mitleiden zu erwecken suchet. Daher pflegt sie sich lauter vornehmer Leute
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.