Full text: Lesebuch für gewerbliche Fortbildungsschulen

20. Die Geschichte des alten Wolfs. 
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„O, uber nichts! Aber wie alt bist du, guter Preund?“ sprach 
der Schafer. 
„Was geht dich mein Alter an? Immer noch alt genug, dir 
deine liebsten Lammer zu würgen.“ 
„Erzürne dich nicht, alter Isegrim! Es thut mir leid, dals du mit 
deinem Vorschlage einige Jahre zu spat kKömmst. Deine ausgebissenen 
Zahne verraten dich. Du spielst den Uneigennũtzigen bloss, um dich 
desto goemachlicher, mit desto weniger Gefahr nàhren zu können.“ 
4. 
Der Wolf ward argerlich, fasste sich aber doch und ging auch 
zu dem vierten Schafer. Diesem war eben sein treuer Hund ge- 
storben, und der Wolk machte sich den Umstand zu nutzo. 
„Schafer“, sprach er, „ich habe mich mit meinen Brüdern in 
dem Walde veruneinigt und so, dass ich mich in Ewigkeit nicht 
wWieder mit ihnen aussõohnen werdé. Du weisst, wie viel du von 
ihnen zu furehten hast! Wenn du mich aber anstatt deines ver 
sgtorbenen Hundes in Dienste nehmen willst, so stehe ich dir dafür, 
dass sie kKeines deiner Schafe auch nur schel ansehen sollen.“ 
„Du willst sie also“, versetzte der Schäfer, „gegen deine Brũüder 
im Walde beschũützen?“ 
„Was meine ich denn sonst? Preilich.“ 
HDas ware nieht abel! Aber, wenn ieh dien mun in meine 
Horden einnahme, sage mir doch, wer sollté alsdann meine armen 
Schafe gegen dich beschützen? Linen Dieb ins Haus nehmen, um 
vor den Dieben ausser dem Hause sicher zu sein, das halten wir 
Menschen — —“ 
„Ich höre schon!“ sagte der Wolft, „du fängst an zu moralisieren. 
Lebe wounl!“ 
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„Ware ich nicht so alt!“ knirschte der Wolf. „Aber ich muss mich 
leider in die Zeit schicken.“ Und so kam er zu dem funften Schàfer. 
„Kennst du mich, Schäfer?“ fragte der Wolt. 
„Deinesgleichen wenigstens kenne ich“, versetzte der Schaäfer. 
„Meinesgleichen? Daran zweifle ich sehr. Ich bin ein so sonderbarer 
Wolt, dass ich deiner und aller Schafer Freundschaft wohl wert bin.“ 
„Und wie sonderbar bist du denn?“ 
„Ich könnte kein löbendiges Schaf würgen und fressen, und wenn 
es mir das Leben Kkosten sollte. Ieh nahre mich bloss mit toten 
Schafen. Ist das nicht lõöblich? Erlaube mir also immer, dass ich 
mich dann und wann bei deiner Herde einfinden und nachfragen 
darf, ob dir nicht —“ 
„Spare die Worte!“ sagte der Schafer. „Du musstest gar keine 
Schafe fressen, auch nicht einmal tote, wenn ich dein FPeind nicht sein 
sollte. EVin Vier, das mir schon tote Schafe frisst, lernt leicht aus 
Hunger kranke Schafe für tot und gesunde für krank ansehen. NMache 
auf meine Freundschaft also keineé Rechnung und geh!“ 
Marschall, Lesebuch für gewerbl. Fortbildungsschulen.
	        
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