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allen Türmen der Stadl beginnen die Glocken zu läuten. Jetzt kommen
sie! Voran eine stolze Reiterschar; dann der kaiserliche Wagen von
sechs Rappen gezogen. Darin sitzt das Kaiserpaar. Wie braust ihm der
Zubelruf der Menge entgegen! An der Ehrenpforte hält der Zug.
Der Bürgermeister begrüßt mit feierlicher Rede den Herrscher des
Deutschen Reichs. Nun tritt aus einer Schar weißgekleideter Mädchen
das eine hervor und überreicht der Kaiserin einen Blumenstrauß.
Sie trägt ein kleines Gedicht ohne zu stocken vor. Huldreich reicht die
Kaiserin dem Mägdlein die Hand.
2. Doch nun will ich euch von dem Manne erzählen, den die
Kaiserin in jenen Tagen mit ihrer Freundlichkeit so reich beglückt hat.
Das ging so zu. Im Dome zu Merseburg ist eine berühmte Orgel.
Eines Tages wünschte die Kaiserin, sie zu hören. Sofort wurde zu
dem trefflichen Domorganisten gesandt. Das muß ihm ja ein hohes
Fest sein, der deutschen Kaiserin auf der herrlichen Domorgel vorzu¬
spielen. Wie eilt der liebe, alte Herr in den Dom! Aber ach, am
Eingänge kommt er zu Fall, stürzt schwer auf den linken Arm und
verwundet sich das Gesicht. Er verbeißt sich aber den Schmerz,
steigt die Treppe empor und setzt sich auf die Orgelbank. Aber da
geht die Rot nun erst recht an. Er ist ja ein Meister im Orgelspiel,
aber heute ist dem armen Organisten von dem bösen Sturz der Arm
wie gelähmt. Und drunten am Altar sitzt die Kaiserin und lauscht.
Sie weiß nichts vom Unfall des Meisters und hat auch an dem ein¬
händigen Orgelspiel ihre helle Freude.
3. Aber nun kommt das Beste. Hört nur! Am andern Morgen
sitzt der Domorganist in seiner Stube und läßt sich den geschwollnen
Arm kühlen. Da tritt ein königlicher Beamter zu ihm ins Zimmer
und meldet: „Ihre Majestät lassen den Herrn Musikdirektor in den
Kreuzgang am Dom bitten!" Unser armer Organist besieht sich von
oben bis unten: „In dem Aufzuge soll ich der Kaiserin unter die
Augen treten?" Er kann ja nicht einmal einen Rock anziehen!
Der Beamte sieht es selbst ein: Es geht nicht! Aber was ge¬
schieht? Während der Musikdirektor die Sache noch mit seiner Frau
bespricht, kommt em Junge von der Straße die Treppe hinaufge¬
sprungen: „Herr Direktor, Herr Musikdirektor, die Frau Kaiserin
kommt!" „Zunge, du bist wohl närrisch?" „Rein, sie kommt schon
durch den Garten!" „Ach du meine Güte, Frau, du bist ja noch im
Morgenkleide! Frau, häng mir doch wenigstens den Rock um!"
Es war noch so früh am Tage, und die Kaiserin schon zu Besuch!
Wirklich, jetzt steigt sie schon die Treppe herauf. Kaum hat die Frau
Musikdirektorin ein besseres Kleid angelegt, da tritt auch schon die
Kaiserin mit ihrer Hofdame ins Zimmer. Der alte Herr hat es mir