Object: Lesebuch nebst fachkundlichen Anhängen für Fortbildungs-, Fach- und Gewerbeschulen

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etwa auf meinem Kontor heute Ball? Und wo waren Sie gestern 
abend? Wenn ich nicht irre, galoppierten Sie auf einem Schimmel zum 
Dammtore hinaus und hatten nicht Zeit, auf Ihren Prinzipal zu achten, 
der zu Fuß nebenher ging." 
„Ich bitte tausendmal um Entschuldigung!" entgegnete der junge 
Mann blutrot, „ich-" 
„Schon gut!" unterbrach ihn Mohrfeld, „ich habe nichts damit zu 
schaffen, was meine Leute außer den Kontorstunden anfangen, sobald 
sie ihre Geschäfte sonst pünktlich besorgen. Aber mit Ihnen ist das ein 
anderes. Sie haben eine arme Mutter, die am Notwendigsten Mangel 
leidet, drei unerzogene Brüder, von denen mir erst gestern zwei barfuß 
begegnet sind, und das zu einer Tageszeit, wo Kinder in der Schule sein 
müssen. Es würde Ihnen mehr Ehre machen, wenn Sie danach trachteten, 
für Ihre Brüder zu sorgen, anstatt sich nach dem Modejonrnale zu kleiden 
und auf einem Schimmel zu stallmeistern. Gehen Sie an Ihre Geschäfte!" 
Der junge Mann war wie mit Purpur übergvffen, er verzog sich 
rückwärts wie ein Krebs und war wie der Blitz zur Tür hinaus. Der 
Kaufmann schritt vollends die Diele entlang und trat in sein Kontor. 
Ich folgte. 
Welch ein Anblick! Ein langer, ziemlich finsterer Saal, in welchem 
Pult an Pult stand, hinter einem jeden ein emsig schreibender oder 
rechnender Mensch, ich zählte deren dreißig; in einem Nebensaale saßru 
auch noch etliche. Unfern der Tür hatte ein ziemlich bejahrter Manu 
hinter einem Zahltische Platz genommen, neben und hinter ihm standen 
mehrere eiserne Kisten. Ich tat einen tiefen Seufzer. 
„Nun, Herr Carstens!" redete der Prinzipal bei seinem Eintritte den 
Kassierer an, „was gibt es Neues?" 
„Wenig!" entgegnete dieser ruhig. „Mehrere Anfragen sind ein¬ 
gegangen, können aber nicht berücksichtigt werden. In Livorno haben 
wir nichts, auf Genua und Venedig können wir um des eigenen Bedarfs 
willen nichts abgeben, drei unserer Schiffe laden auf dort. Zwei Valuten 
(Wechsel) auf Neuyork und eine auf Havanna, die auch begehrt wurden, 
habe ich angewiesen. Können Sie Kopenhagener und schwedische Papiere 
zu einem annehmbaren Kurs brauchen?" 
„Nein, es soll so wenig Geld als möglich in Papiere gesteckt werden, 
ich brauche nächstens einen bedeutenden baren Vorrat; merken Sie 
sich das!" 
Er ging weiter, stand aber bald darauf vor einem Pulte füll. „Smd 
die Stückgüter gestern an Bord der ,Artemisia' gekommen, Herr Köhler?" 
ftagte er hingeworfen. „Ist die Assekurauz für meinen ,Pfeil' besorg:, 
und hat Kapitän Heysen seine Papiere?" 
„Es ist alles besorgt!" war die Antwort. „Hier sind die Konnosse¬ 
ments (Seefrachtbriefe), hier die Police und hier der Empfangsschein des 
Kapitäns." 
„Gut, ich bin mit Ihrer Pünktlichkeit zufrieden. Fahren Sie so fori; 
Ordnung ist die Seele des Geschäftes. Nehmen Sie sich aber mit deW
	        
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