— 228 —
Vater in einem traurigen Haushalt verkehrt erzogen, verständnislos be-
vormundet, nie an Selbstzucht gewöhnt brachte er viele Jahre einer wilden
und zerfahrenen Jugend in Gefängnissen zu, in die ihn sein Vater schickte,
oder in die ihn seine Leidenschaften führten (47a Jahre war er in Vincennes
wegen Entführung einer Ehefrau gefangen), erlangte aber durch seine
zum großen Teil hinter den Gefängnismauern entstandenen politischen
Schriften früh ein Ansehen, erweiterte seine politischen Einsichten durch
das Studium fremder Staaten, wie er denn Friedrich den Großen noch
kurz vor dessen Tod aufsuchte und seine Wahrnehmungen über Friedrichs
des Großen Staat schriftstellerisch verwertete. Als die Revolution sich
näherte, sah er in ihr das Mittel, die Stellung zu erlangen, die der alte
Staat ihm versagt hatte. Von seinen Standesgenossen abgewiesen kam
er als Vertreter des dritten Standes und als gewaltigster Vorkämpfer der
Revolution in die Nationalversammlung. Ein genialer Kopf und zünden-
der Redner, aber im Grund ohne sittlichen Halt hat er trotz seiner Uber-
zeugung von der Notwendigkeit eines starken Königtums doch für die Er-
Haltung desselben nichts Wesentliches geleistet.
Nachdem man kostbare Zeit mit der Beratung der „Menschen-
rechte" verbraucht hatte, ging man an die Beratung der Konstitution.
Die Teilung der gesetzgebenden Versammlung in eine erste und
zweite Kammer wurde verworfen, dem König gegenüber den Be-
schlüssen der Versammlung nicht ein absolutes (unbedingtes) Veto
(Einspruchsrecht), sondern nur ein suspensives (aufschiebendes)
eingeräumt; auch das Recht über Krieg und Frieden wurde dem
König nur im Verein mit der Nationalversammlung übertragen.
Ohne Rücksicht auf das geschichtlich Gewordene wurde der Unter¬
schied der Landschaften und Provinzen abgeschafft und dafür das
Reich in 83 Departements, diese in Arrondissements, Kantone,
Gemeinden eingeteilt. Überall wurde gleiches Maß, Münze, Ge-
wicht, überall gleiche Organisation der Verwaltung und Rechts-
pflege eingeführt. Der politischen Einteilung schloß sich die Gerichts-
organisation an, wobei statt der Parlamente Kriminalgerichte mit
Geschworenen eingerichtet wurden. Am einschneidendsten war das
Vorgehen auf dem Gebiet der Kirche. Man stellte den Grundsatz
allgemeiner Religionsfreiheit auf. Man zog, da die Finanznot
immer stieg, die Kirchengüter ein (Ende 1789), um vor allem
auf Grund davon Kassenscheine oder Geldanweisungen (Assignaten)
auszugeben, und kümmerte sich nicht um das Urteil von Sieyes:
„Ihr wollt frei sein und versteht nicht gerecht zu sein." Man wollte
auch dem Klerus eine bürgerliche Verfassung geben: in jedem
Departement sollte ein Bischof, im ganzen Reiche zehn Erzbifchöfe
fein. Bischöfe und Pfarrer sollten vom Volk gewählt werden, ine
Bischöfe keine Bestätigung des Papstes nachsuchen. Diese „Zwü-
Verfassung des Klerus" (1790 Constitution civile du clergß), die
von den Geistlichen beschworen werden sollte, vom Papste aber ver-
worfen wurde, erregte große Verwirrung, sie war der Grundfehler