Contents: Deutsches Lese- und Bildungsbuch für katholische Schullehrer-Seminare

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Das Fichtengeschlecht ist aber auch ganz für die scharfen Winde der Hochgebirge und für 
die scharfe Luft rauher Klimate geschaffen. Das schöne, hellgrüne, schattenreiche Laub ist ihm 
vom Schöpfer versagt, die breite Fläche des Eichen- und Buchenblattes ist zusammengeschrumpft 
zu einem dünnen, spitzigen Nadelkörper, der feindlich die Hand von sich abstößt, die sich ihm 
naht. Aber an diesem zusammengerollten Nadelblatte findet auch die Winterluft keine Fläche, 
an der sie ihren Zorn auslassen könnte, um das Blatt zu zerstören. Dazu kommt der harzige 
Tast, welcher der Kälte so wacker Widerstand leistet, welcher die Blätter immer grün erhält 
und diese Fülle von Leucht- und Wärmestoff umschließt. 
Jeder Baum ist in seiner Art schön, und die Fichte ist vom Schöpfer nicht minder mit 
allerlei trefflichen Gaben bedacht worden, als die Birke, die Buche und die Eiche. Erheitern die 
freundlichen Laubwälder mehr dein Gemüt, so wirst du in einem Fichtenwalde mehr ernst und 
erhaben gestimmt. Wenn unsichtbare Lüfte in den hohen Wipfeln sausen, so erinnert dies an 
das erhabene Rauschen eines großen Flusses oder an das ferne Brausen des Weltmeeres, mit 
dessen dunklem Grün der gedämpfte Ton des Fichtenwaldes harmoniert. Die sinnigen Griechen 
hatten die Fichte dem Poseidon, dem mächtigen Gotte des Meeres, geweiht. Der feierliche Ernst 
eines Fichtenhaines stimmt das Herz ebenso zur Andacht, wie die geheimnisvolle Stille eines 
Eichenwaldes. Und wie rührend ist es dann, wenn im dunkeln Grün der Tannenzweige die 
Singdrossel ihre hellen, reinen Töne erklingen läßt! Ihr Lied singt am Abend das Wild in den 
Schlaf und weckt es wieder des Morgens in aller Frühe. 
Willst du den ganzen vollen Eindruck eines Fichtenwaldes bekommen, so wandere in die 
Thäler der Hochgebirge oder auf die Felsenhöhen Norwegens und Schwedens. Da häufen und 
drängen sich die Berge in allerlei seltsamen Gestalten über- und nebeneinander; schroffe, zerrissene 
Spitzen ragen kahl empor, und in geheimnisvoller Ferne erhebt sich wie ein Riesenfürst der 
mächtige Gousta, um den sich die niedrigen Höhen wie die Vasallen um ihren Lehensherrn 
lagern. Der ewige Schnee liegt in tiefe Schluchten gebannt, während die schroffen Felswände 
in düsterer Nacktheit dastehen. Die Berge sind, einige bis an den Gipfel, mit finsteren Tannen 
und Fichten von großer Höhe, die schlank und schön sich dicht aneinander schmiegen, bedeckt: ein 
weites düsteres Waldmeer von unermeßlichem Umfange. Tief schneiden die Thäler und Schluchten 
gleich Jrrgängen nach allen Richtungen ein. Eine furchtbare Stille herrscht überall, nur durch 
deine Schritte und deinen Atem unterbrochen. Je weiter du dringst, desto größer wird der Wald: 
bald läßt sich kein Tier mehr blicken: alles Lebendige und Bewegliche scheint in den tiefen Thälern 
wie vergraben. Nur der steinerne Riesengeist des erstarrten Nordens scheint hier kaum hörbar 
atmend in seiner Felsenburg zu schlummern, während die schlanken Tannen und Fichten als 
ein unabsehbares Heer festgewurzelter Schildknappen seinen Schlummer bewachen. 
Nun schwinge dich mit den Flügeln des Gedankens einige hundert Meilen südlich zu den 
Gletschergefilden der Alpen, auf das Grindelwalder Eismeer. Freilich hat dort die Axt des 
Menschen mit der stürzenden Lawine gewetteifert, die sonst undurchdringlichen Tannenwälder zu 
lichten; aber in desto seltsameren Gruppen überziehen die Fichtenbäume die Felsabhänge des 
Thales Sie haben dort die schroffsten Wände erklommen und stehen da wie zahlreiche Armeeen, 
die im Begriffe sind, die Riesenmauern einer Gigantenstadt zu stürmen. 
Wie du bereits weißt, ist der Fichtensame gefiedert, und so begreifst du leicht, wie es möglich 
war, daß diese Wälder, aus den tiefen Gründen von den aufsteigenden Winden emporgehoben, 
allmählich jene hohen Gegenden besetzen konnten. Es ist sehr viel von den kühnen und schwie¬ 
rigen Stellungen, welche die Gemsen auf den Felsen annehmen, gesprochen worden, aber die 
viel kühneren und mannigfaltigeren Stellungen, welche die Bäume an den Felsabhängen einzu¬ 
nehmen wissen, hat man viel zu wenig beobachtet, obschon sie aller Welt vor Augen liegen. 
Tie Fichtenbäume verstehen es sogar, da Wurzeln zu fassen, wo nur ein Körnchen sich verstecken 
kann. Sie stehen da noch gerade und unerschüttert und kühn, wo selbst die Gemse schwindeln 
würde. Bald sieht man aus einem schmalen, langen Felsenrande eine ganze Reihe von Bäumen 
längs der Wände stehen, als wollten sie einen Kranz um den Felsen schlingen; bald hat sich 
eine kleine Gruppe aus die Spitze einer einzelnen Kuppe gerettet, bald steht nur ein einziger 
da, wie die Schildwache auf ihrem Posten. 
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