Contents: Lesebuch nebst fachkundlichen Anhängen für Fortbildungs-, Fach- und Gewerbeschulen

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Mit zitternden Händen schlug Frau Schaller den Deckel des Korbes 
in die Höhe, und was da zum Vorschein kam, entlockte den drei Kinder¬ 
mäulchen ein staunendes, jubelndes Ah! Spielsachen, Backwerk, Kleider¬ 
stoffe, das wollte fast kein Ende nehmen — und ganz zu unterst wurde 
ein kleines, zierlich beschlagenes Kästchen ausgegraben, das sich bis zum 
Rande angefüllt zeigte mit blitzblanken Silbergulden. Erblaßt bis in die 
Lippen, schaute Frau Schaller zu ihrem Manne auf, der aber streckte schon, 
das Gesicht von dunkler Zornröte übergössen, die beiden Hände, packte 
das Kästchen und warf es in den Korb zurück, daß die Münzen klirrend 
in die Höhe sprangen. „Fort — fort mit dem Geld, sag' ich — und 
die Händ' von dem Zeug, Kinder, die Händ' weg!" schrie er mit bebender 
Stimme. „Der Lump — weil er's auf geradem Weg nicht fertig ge¬ 
bracht hat — jetzt meiut er, er kann mich von hinten packen! Mit¬ 
nehmen sollen sie's wieder — auf der Stell' ..." Er eilte in den 
Flur hinaus, um die beiden Dienstmänner zurückzurufen. Draußen aber 
stand er wie versteinert und brachte kein Wort über die Lippen. Unter 
der offenen Wohnungstüre stand sein Chef, Herr Seydelmann, eine statt¬ 
liche Erscheinung von bürgerlich-behäbigem Aussehen. 
„Guten Abend, lieber Schaller!" 
„Sie — Herr Seydelmann — Sie kommen — zu mir?" 
„Wie Sie sehen. Und — wissen Sie auch, was ich möchte?" 
lächelte der alte Herr. „Ich möchte Sie fragen, wie Ihnen heute nach¬ 
mittag der Kaffee geschmeckt hat." 
Dem jungen Manne fielen die Lippen auseinander, und mit zitterndem 
Arme tastete er nach der nahen Mauer. Wie ein grauer Schleier kam's 
ihm vor die Augen, er sah nichts mehr, er fühlte nur, wie ihm sein Chef 
die Hand auf die Schulter legte, und er hörte ihn mit leiser, ernster 
Stimme sagen: 
„Sie haben ein Recht, lieber Schaller, diese Geschichte von heute 
nachmittag eine Beleidigung zu nennen — und ich komme auch, um Ihnen 
Abbitte zu leisten. Ich hatte Vertrauen zu Ihnen — als Mensch. Aber 
ich bin auch Geschäftsmann, und als solcher muß ich mich von der Richtig¬ 
keit meiner Meinung überzeugen. Der Herr, welcher Sie heute ins Kaffee¬ 
haus gerufen hat, ist mein Schwager gewesen. Und weil er in meinem 
Auftrag handelte, müssen Sie auch das Anerbieten, das er Ihnen machte, 
als von mir gemacht betrachten. Von Neujahr an verdopple ich Ihre 
Bezüge und biete Ihnen einen zehnjährigen Kontrakt mit steigendem Ge¬ 
halte. Wenn Sie dann übermorgen wieder die Fabrik besuchen, darf und 
will ich Ihnen auch das Geheimnis der richtigen Mischung anvertraue«. 
Und jetzt kommen Sie — jetzt will ich Ihre Frau und Ihre Kinder 
kennen lernen!" 
Da löste sich der Bann, der über dem jungen Manne lag, und mit einem 
von Tränen erstickten Aufschrei stürzte er seinem Chef voran in die Stube. 
Ein süßer, harziger Duft quoll ihm entgegen. Ein Zweig des Christ¬ 
baumes, auf welchem noch immer die Kerzen brannten, hatte Feuer ge¬ 
fangen. Ludwig Ganghofer.
	        
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