Schwab: Odipus' Sturz.
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endlich verfluchte er unter schauerlichen Beteuerungen, wünschte ihm Not und
Plage durch das ganze Leben und zuletzt das Verderben. Und das solle
ihm widerfahren, selbst wenn er am Herde des Königs verborgen lebe. Zu
allem dem sandte er zwei Boten an den blinden Seher Tiresias, der an Ein—
sicht und Blick ins Verborgene fast dem wahrsagenden Apollo selber
gleichkam.
Dieser erschien auch bald an der Hand eines leitenden Knaben vor
dem Könige und in der Volksversammlung. Odipus trug ihm die Sorge
vor, die ihn und das ganze Land quälte; er bat ihn, seine Seherkunst an—
zuwenden und ihnen auf die Spur des Mordes zu verhelfen. Aber Tiresias
brach in einen Weheruf aus und sprach, indem er seine Hände abwehrend
gegen den König ausstreckte: „Entsetzlich ist das Wissen, das dem Wissenden
nur Unheil bringt! Laß mich heimkehren, König; trag du das deine und
laß mich das meine tragen!“ Odipus drang jetzt um so mehr in den
Seher, und das Volk, das ihn umringte, warf sich flehend vor ihm auf die
Knie. Als er aber auch so keine weiteren Aufschlüsse geben wollte, ent—
brannte der Jähzorn des Königs, und er schalt den Tiresias als Mitwisser
oder gar Fausthelfer bei der Ermordung des Laius. Ja, wenn er nur
sehend wäre, so traute er ihm allein die Untat zu. Die Beschuldigung löste
dem blinden Propheten die Zunge. „Odipus,“ sprach er, „gehorche deiner
eigenen Verkündigung! Rede mich nicht, rede keinen aus dem Volke fürder
an! Denn du bist selbst der Greuel, der diese Stadt besudelt! Ja, du bist
der Königsmörder, du bist derjenige, der mit dem Teuersten in fluchwürdigem
Verhältnisse lebt!“
Odipus war nun einmal verblendet; er schalt den Seher einen Zauberer,
einen ränkevollen Gaukler; er warf Verdacht auch auf seinen Schwager
Kreon und beschuldigte beide der Verschwörung; sie hätten verabredet, durch
ihre Lügengespinste ihn, den Erretter der Stadt, vom Throne zu stürzen.
Aber nur noch näher bezeichnete ihn jetzt Tiresias als Vatermörder und
Gatten der Mutter, weissagte ihm sein nahe bevorstehendes Elend und ent—
fernte sich zürnend an der Hand seines kleinen Führers.
Auf die Beschuldigung des Königs war indessen auch der Fürst Kreon
herbeigeeilt, und es hatte sich ein heftiger Wortwechsel zwischen beiden ent—
sponnen; Jokaste, die sich zwischen die Streitenden warf, suchte ihn vergeb—
lich zu beschwichtigen. Kreon schied unversöhnt und im Zorn von seinem
Schwager.
Noch blinder als der König selbst war seine Gemahlin Jokaste. Sie
hatte kaum aus dem Munde des Gatten erfahren, daß Tiresias ihn den
Mörder des Laius genannt habe, als sie in laute Verwünschungen gegen
Seher und Seherweisheit ausbrach. „Sieh nur, Gemahl,“ rief sie, „wie