Full text: [Abteilung 3 = Für Quarta, [Schülerband]] (Abteilung 3 = Für Quarta, [Schülerband])

Schwab: Odipus' Sturz. 
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endlich verfluchte er unter schauerlichen Beteuerungen, wünschte ihm Not und 
Plage durch das ganze Leben und zuletzt das Verderben. Und das solle 
ihm widerfahren, selbst wenn er am Herde des Königs verborgen lebe. Zu 
allem dem sandte er zwei Boten an den blinden Seher Tiresias, der an Ein— 
sicht und Blick ins Verborgene fast dem wahrsagenden Apollo selber 
gleichkam. 
Dieser erschien auch bald an der Hand eines leitenden Knaben vor 
dem Könige und in der Volksversammlung. Odipus trug ihm die Sorge 
vor, die ihn und das ganze Land quälte; er bat ihn, seine Seherkunst an— 
zuwenden und ihnen auf die Spur des Mordes zu verhelfen. Aber Tiresias 
brach in einen Weheruf aus und sprach, indem er seine Hände abwehrend 
gegen den König ausstreckte: „Entsetzlich ist das Wissen, das dem Wissenden 
nur Unheil bringt! Laß mich heimkehren, König; trag du das deine und 
laß mich das meine tragen!“ Odipus drang jetzt um so mehr in den 
Seher, und das Volk, das ihn umringte, warf sich flehend vor ihm auf die 
Knie. Als er aber auch so keine weiteren Aufschlüsse geben wollte, ent— 
brannte der Jähzorn des Königs, und er schalt den Tiresias als Mitwisser 
oder gar Fausthelfer bei der Ermordung des Laius. Ja, wenn er nur 
sehend wäre, so traute er ihm allein die Untat zu. Die Beschuldigung löste 
dem blinden Propheten die Zunge. „Odipus,“ sprach er, „gehorche deiner 
eigenen Verkündigung! Rede mich nicht, rede keinen aus dem Volke fürder 
an! Denn du bist selbst der Greuel, der diese Stadt besudelt! Ja, du bist 
der Königsmörder, du bist derjenige, der mit dem Teuersten in fluchwürdigem 
Verhältnisse lebt!“ 
Odipus war nun einmal verblendet; er schalt den Seher einen Zauberer, 
einen ränkevollen Gaukler; er warf Verdacht auch auf seinen Schwager 
Kreon und beschuldigte beide der Verschwörung; sie hätten verabredet, durch 
ihre Lügengespinste ihn, den Erretter der Stadt, vom Throne zu stürzen. 
Aber nur noch näher bezeichnete ihn jetzt Tiresias als Vatermörder und 
Gatten der Mutter, weissagte ihm sein nahe bevorstehendes Elend und ent— 
fernte sich zürnend an der Hand seines kleinen Führers. 
Auf die Beschuldigung des Königs war indessen auch der Fürst Kreon 
herbeigeeilt, und es hatte sich ein heftiger Wortwechsel zwischen beiden ent— 
sponnen; Jokaste, die sich zwischen die Streitenden warf, suchte ihn vergeb— 
lich zu beschwichtigen. Kreon schied unversöhnt und im Zorn von seinem 
Schwager. 
Noch blinder als der König selbst war seine Gemahlin Jokaste. Sie 
hatte kaum aus dem Munde des Gatten erfahren, daß Tiresias ihn den 
Mörder des Laius genannt habe, als sie in laute Verwünschungen gegen 
Seher und Seherweisheit ausbrach. „Sieh nur, Gemahl,“ rief sie, „wie
	        
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