Full text: Lehrbuch der Geschichte für die Ober-Secunda höherer Lehranstalten

Zucht und Sitte lockerte sich, die Achtung vor Recht und Gesetz wurde zerstört, 
der alte Götterglaube hielt vor der hereinbrechenden Aufklärung nicht stand. 
Die Auflösung von Staat und Gesellschaft kam am klarsten in Athen zur 
Erscheinung. 
Den Übergang zu der neuen Zeit bezeichnen hier Aristöphanes und Thuky- 
dides. Aristöphanes, der geniale Komödiendichter (f 388), trat äußerlich 
als Vertreter der guten alten Zeit und Sitte auf. aber in ausgelassener Laune 
trieb er sein Spiel mit der Gottheit und wahrte weder die Würde der alten 
Religion noch erkannte er die sittlichen Bestrebungen der eigenen Zeit, wie die 
des Sokrates, an. Das Gegenteil von ihm ist der ernste, auf die Wahrheit 
der Dinge gerichtete Thukydides (471 bis etwa 396), der große Geschicht¬ 
schreiber des peloponnesischen Krieges; durch die freie Richtung, die er dem Aber- 
glauben des Volkes gegenüber einnahm, und durch die zahlreichen Reden in 
seinen Werken stand er in Beziehung zu den beiden großen geistigen Richtungen 
seiner Zeit, der philosophischen und der rhetorischen. 
Die Philosophie gelangte in ihren vergeblichen Bestrebungen, den Urgrund 
der Dinge zu finden, zu dem Zweifel an aller Wahrheit, sodaß Protagöräs 
von Abdera (an der thrakischen Küste) das berühmte Wort sprach: „Der Mensch 
ist das Maß aller Dinge" d. h. alles ist so, wie es dem einzelnen erscheint. 
Von diesem Standpunkt aus kam es darauf an, in gewandtem Gespräch (dia- 
lektisch) den andern für die eigene Ansicht zu gewinnen. Mit dieser Dialektik, 
welche die sogen. Sophisten übten, entwickelte sich naturgemäß die Redekunst 
(Rhetorik). 
Sophisten wie Rhetoren boten ihre Künste, klug und beredt zu machen, 
für Geld x) an und durchzogen als berufsmäßige Lehrer die griechischen Städte. 
Praktischen Erfolg suchten sie vor allem. Zu den Häuptern der Sophisten ge- 
hörten außer Protagoras Hippiäs aus Elis, Prodi kos aus Keos und 
Gorgiäs aus Leontmoi (unweit der Ostküste Siciliens), der indes nur Rhetör 
heißen wollte. 
Von der neuen Bildung beeinflußt, doch nicht gefangen, dichtete Euri- 
pides seine Dramen, der dritte große Tragiker Athens (geb. am Tage der 
Schlacht bei Salamis, 480—405), ein Mann von gewaltiger Erfindungsgabe. 
Das Leben und die Menschen seiner Zeit mit ihren Leidenschaften übertrug er 
auf die Heroenzeit und erschütterte dadurch tief die Ehrfurcht vor der Helden- 
sage, dem großen geistigen Besitze der Nation. 
Alles war zweifelhaft geworden, die tatsächlichen Wahrnehmungen, die 
Wahrheit der Rede, das Dasein der Götter, der Unterschied zwischen Recht und 
Unrecht. Da erschien Sokrates, von Beruf ein Bildhauer, aber immer mehr 
ein Bildner und Lehrer seiner Mitbürger; er ging von dem Satze aus, daß 
er nichts wisse, und suchte im Wechselgespräch sich und andern Einsicht in das 
Wesen der Dinge zu verschaffen; er wollte niemandem Fertigkeiten beibringen 
und nahm deshalb kein Geld. Er schuf zuerst ein begriffliches Wissen, 
das die Grundlage aller wissenschaftlichen Thätigkeit geworden 'ist. Was er selbst 
für richtig erkannt hatte, führte er bei der Stärke seines sittlichen Wollens auch 
1) Des Freien unwürdig schien ursprünglich das, was nicht um der Sache oder zum 
Zweck der Tugend, sondern um des Berufes und Geldes willen getrieben wurde; dies galt 
als banausisch (handwerksmäßig).
	        
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