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Die Küsten unseres Landes.
tritt der Ebbe; der Sturm läßt das Wasser nicht wieder zurück-
treten. So kommt dann nach zwölf Stunden die zweite Fluth
wie ein schwarzes Gebirge heran. Nun wird der Deich überströmt;
alles Volk, durch die Sturmglocke zur Hülse aufgeboten, hat sich
an den bedrohten Stellen versammelt. Bisweilen gelingt es, mit
herbeigeführtem Mist und Erde eine entstandene Oeffnung zu
stopfen; oft ist aber alle Hülfe vergebens angewandt. Dann
bricht die salzige Fluth mit furchtbarer Gewalt durch die sich
stets erweiternden Oeffnungen auf das dahinter liegende niedere
Land ein, wühlt in demselben tiefe Löcher, verwandelt die weite
Marsch in kurzer Zeit in einen tiefen See, zerstört die Felder und
die Wohnungen der Menschen. Können sich letztere nun vielleicht
auch noch retten, so geht der Viehstand doch meistens verloren. Ost
werden sogar weite Strecken Landes mit darauf stehenden Häusern
und Bäumen losgerissen und weithin fortgeschwemmt; so wurde
z. B. im Jahre 1509 am Dollart von der Groninger Küste eine
große Fläche Landes losgerissen und mit Häusern, Menschen und
Vieh auf das jenseitige Ostfriesische Ufer getrieben. Legt sich dann
der Sturm, und zieht sich das Meer in seine alte Gränzen zurück,
dann sieht man ost die reichsten Felder mit unfruchtbarem Sande
bedeckt. Ueberall trifft man Leichen von Menschen und Thieren,
bald vereinzelt, bald in Gruppen bei einander liegend; hier er-
blastte Mütter, die ihre todten Kinder noch krampfhaft umschlungen
halten, dort Eheleute aneinander gebunden; von Kälte erstarrte
Menschen in den Bäumen hängend, andere im umgestürzten Kahne
in den verschlammten Gräben liegend. Da kam es früher wohl
vor, daß ein Mann der noch vor wenig Tagen als wohlhabend
galt, nun, weil er die Kosten der Wiederherstellung des Deiches
nicht erschwingen konnte, nach der alten Regel, die da hieß: „Wer
nich mit kann dicken, de mot wieken", den Spaten in seine Län-
dereien steckte und seine Heimat mit dem weißen Stabe in der Hand
als Bettler verließ. Wer dann den Spaten wieder herauszog und
damit erklärte, die Deichlast übernehmen zu wollen, der wurde Be-
sitzer des verlassenen Landes. Von dem Elend solcher Ueberschwem-
mungen nur ein Beispiel. Die sogenannte Weihnachtssluth (24. Dec.)
des Jahres 1717, welche von Holland bis an die Schleswigsche Küste
alle Deiche zerstörte, kostete 11000 Menschen das Leben; so rasch
kam das Unheil, daß fast niemand ihm entfliehen konnte. Mitten
in der finstersten Nacht, als alles sorglos im tiefsten Schlafe lag,
kam die Noth. Mehrere Tage vor Weihnachten hatte es scharf
aus Südwesten geweht, wodurch viel Wasser aus dem Kanal in