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3. Die Blütezeit der griechischen Kultur.
reich wie keine zweite, die Herrscherin eines mächtigen Reiches, wird die Haupt-
trägerin der ganzen griechischen Kultur. Neben der großen historischen Vergangen-
heit sind es besonders drei Umstände, welche sie zur edelsten Stätte geistigen Schaffens
machen: eine weit zurückreichende Kunsttradition, ein hohes Maß bürgerlicher Freiheit
und, besonders in der Zeit des Perikles, eine vielseitige Förderuug durch beu Staat,
Aus ihrem Schöße gebiert sie die unsterblichen Meister der Architektur uud Bildnerei,
Kalamis, Phibias, Minus imb Mnesikles, bie Dichterfürsten Äschylus, Sophokles,
Euripibes unb Aristophanes, bie Geschichtschreiber Thnkybibes unb Xenophon, die
Philosophen Sokrates und Plato, den Astronomen Meton, eine stattliche Reihe her-
vorragender Redner, deren erster des Perikles Zeitgenosse Antiphon ist. Als geistige
Hauptstadt der hellenischen Welt zieht sie wie ein Magnet die bedeutendsten Männer
der andern Städte an sich. Noch während des 5. Jahrhunderts wandern nach Athen
der Baumeister Hippobamus aus Milet, ber Bilbhauer Myrou aus Eleutherä in
Böotien, bie Maler Mikon aus Ägina, Polygnot aus Thasos, Zeuxis aus Heraklea
in Unteritalien, Parrhasius ans Ephesns, der Vater der Geschichtschreibuug Herodot
aus Halikarnaß, der berühmteste Arzt des Altertums Hippokrates aus Kos, die So-
phisteu Protagoras aus Abdera, Gorgias aus Leontini, Hippias aus Elis, Probikus
aus Keos, bie Philosophen Euklides aus Megara, Phädon aus Elis, Aristippus aus
Kyrene. Das Attische wird die Sprache bes gesamten Schrifttums. Nur Herobot
imb Hippokrates verfassen ihre Werke ionisch. Außer Athen zeichnen sich nach wie
vor bie Kolonien, zumal bie sizilischeu unb kleinasiatischen, unb im Mutterlanbe bie
Stäbte Argos unb Sikhon burch bie Pflege ber Künste aus. Völlig unberührt von
bem Aufschwung bleibt Sparta, wo ber Militarismus jebes höhere Streben erstickt.
In ber Architektur ist bie Verbindung borischer Kraft unb ionischer Anmut bas
Charakteristische. Man überträgt einzelne Merkmale ber einen Orbnnng aus bie
anbere. Am schönsten zeigt sich bies bei bem Parthenon. Auf brei Stufen erhob sich
am Südrande der Akropolis das von Jktinns entworfene, ganz aus pentelischem Mar-
mor erbaute Heiligtum. In dorischem, leicht ionisierendem Stile ausgeführt, erscheint
es vielen durch seine „reine Hoheit, klare Schönheit und stille Größe als das klassischste
aller klassischen Bauwerke". Goldene Schilde zierten den Architrav, herrliche Reliefs
schmückten die Giebelfelder, die Mewpen und den Fries des Tempelhauses. Den
Hauptraum bildete die dreischissige, 100 Fuß lauge Halle (Hekatömpedos) mit dem
von Phidias aus Gold und Elfenbein verfertigten Standbilde der jungfräulichen
Pallas. Im 5. Jahrhundert weihte das christlich gewordene Volk die Kirche der
heiligen Jungfrau Maria. 1000 Jahre später ward daraus eine Moschee. In dem
Kriege, den die Türken mit Venebig führten, sank das hehre Gebäude zum Teil in
Trümmer (1687). Was damals der Zerstörung entging, hat sich im großen und
ganzen bis heute erhalten.
Mitunter verwenbete man ben ionischen und ben dorischen Stil nebeneinander,
und Jktinus beginnt sogar ein und dasselbe Gebäude zugleich mit Säulen aller drei
Ordnungen zu schmücken. Eine weitere Neuerung besteht darin, daß man das Ge-
bälk zuweilen durch menschliche Gestalten tragen läßt. Vorbildlich sind in dieser Be-
Ziehung die Mädchenfiguren (Koren oder Karyatiden) am Erechtheum in Athen und
die Steinriesen (Atlanten oder Telamonen) am Zeustempel in Agrigent. Das
Erechtheum war den um den Besitz Attikas streitenden Gottheiten Athene und Po-
seidon-Erechtheus gewidmet. Es liegt am Nordrande der Akropolis, wo einst die
alte Königsburg gestanden. Dem westlichen Teil des Hauptgebäudes sind zwei
Hallen vorgelagert, nach Norden ein sechssäuliger Portikus, der durch ein Pracht-