Full text: Dritte Periode der Neuzeit, die Zeit der Umwälzungen (H. 4)

104 
Quellensätze. 
Schatten des Fürsten Bismarck wachsen, je weiter der Lebensweg des deutschen Volkes 
vorrückt und je mehr das nationale Urteil ausreift. 
Auf märkischer Scholle, im Herzen Preußens geboren, ist Otto von Bismarck in 
den Mauern der Stadt Berlin aufgewachsen. Den Garten der Plamannschen Erziehuugs- 
anftalt, einst dort am unteren Ende der Wilhelmstraße gelegen, hat er nachmals die 
Geburtsstätte seiner Luftschlösser genannt. Hinter dem Bretterzaun dieses Gartens zeigte 
dem Knaben die Phantasie die ganze bunte Erde mit ihren Wäldern und Bergen und 
allen den Erlebnissen, die seiner warteten, die ganze weite Welt, die dieser Knabe der- 
einst umgestalten sollte, als er nach einem Menschenalter in die Wilhelmstraße zurück- 
kehrte und die größte Epoche der deutschen Geschichte begann. Nachdem er unter und 
mit Kaiser Wilhelm dem Großen in gewaltiger Energie das Reich ausgerichtet hatte, 
sicherte er diesem und der Welt in ebenso seltener Mäßigung und Selbstbeschränkung 
den Frieden. Er hat, um mit Fichte zu reden, das deutsche Volk aus dem Gröbsten 
herausgehauen. Er hat, um mit seinen eigenen Worten zu reden, das deutsche Volk 
in den Sattel gehoben, was vor ihm keinem geglückt war. Er hat ausgeführt und voll¬ 
endet, was seit Jahrhunderten das Sehnen unseres Volkes und das Streben unserer 
edelsten Geister gewesen war, was die Ottonen und Salier und Hohenstaufen vergeblich 
angestrebt hatten, was 1813 den Kämpfenden als damals noch unerreichbarer Sieges- 
preis vorschwebte, wofür eine lange Reihe Märtyrer der deutschen Idee gekämpft und 
gelitten hatten. Und er ist gleichzeitig der Ausgangspunkt und Bahnbrecher einer neuen 
eit für das deutsche Volk geworden. In jeder Hinsicht stehen wir auf seinen Schultern. 
Nicht in dem Sinne, als ob es vaterländische Pflicht wäre, alles zu billigen, was 
er gesagt und getan hat. Nur Toren oder Fanatiker werden behaupten wollen, daß 
Fürst Bismarck niemals geirrt habe. Auch nicht in dem Sinne, als ob er Grundregeln 
aufgestellt hätte, die nun unter allen Umständen, in jeder Lage und in jedem Falle 
blindlings anzuwenden wären. Starre Dogmen gibt es weder im politischen noch im 
wirtschaftlichen Leben, und Fürst Bismarck hat von der Doktrin nicht viel gehalten. 
Aber was uns Fürst Bismarck gelehrt hat, ist, daß nicht persönliche Liebhabereien, nicht 
populäre Augenblicksströmungen noch graue Theorie, sondern immer nur das wirkliche 
und dauernde Interesse der Volksgemeinschaft die Richtschnur einer vernünftigen und 
sittttich berechtigten Politik sein darf. Was uns sein ganzes Wirken zeigt, ist, daß der 
Mensch das Schiff lenken kann, das auf dem Strome fährt, nicht aber den Strom selbst, 
daß wir, wie Fürst Bismarck sich ausgedrückt hat, die großen Dinge nicht machen, aber 
den natürlichen Lauf der Dinge beobachten und das, was dieser Lauf zur Reife gebracht 
hat, sichern können. Mit anderen Worten: daß es in der Politik darauf ankommt, in 
jedem Augenblick die Grenze des Erreichbaren deutlich zu erkennen, an die Erreichung 
des zu Nutz und Frommen des Landes Erreichbaren aber alles zu setzen.... 
Dort vor uns liegt die Siegesallee. Wenn diese stolze Straße von den Askaniern 
und den Nürnberger Burggrafen bis zum großen Deutschen Kaiser führt, so verdanken 
wir es in erster Linie dem Genie des Mannes, dessen Bild in Erz sich jetzt vor unfern 
Blicken enthüllen soll, feiner Ausdauer, feinem heldenhaften Mut, feiner Klugheit, feiner 
Arbeit für das Hohenzollernhaus, das aus dem Süden Deutschlands zu uns kam, um 
von hier aus Nord und Süd für immer zu verbinden. Sein Werk ist so beschaffen, 
daß es ihn überleben kann. In der Mitte von Europa gelegen, sind wir darauf hin¬ 
gewiesen, immer auf der Wacht zu fein, aber stark genug, unsere Unabhängigkeit nach 
jeder Seite hin zu behaupten. Von Gegensätzen durchzogen, in politischer, Wirtschaft- 
licher und konfessioneller Beziehung, wird es uns nie an inneren Kämpfen fehlen, aber 
sie werben nicht mehr imstande fein, den Reifen zu sprengen, der vor 30 Jahren ge¬ 
schmiedet wurde. Bismarck hat sich ein Denkmal gesetzt, dauernder als Erz. 
So möge denn des großen Mannes Name als Feuersäule vor unserem Volke her- 
ziehen in guten und in schweren Tagen: Möge sein Geist für immer mit uns fein, mit 
uns und unserer Fahnen Flug! Möge unser deutsches Volk feiner großen Zukunft in 
Frieden und Freiheit, in Wohlfahrt und Stärke entgegengehen unter der Führung des 
glorreichen Hohenzollernhauses, auf dessen Schultern die Zukunft ber Nation ruht! 
Druck von' Breitkopf & Härtel in Leipzig.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.