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12. Die Anfänge germanischer Seefahrt.
12. Die Anfänge germanischer Seefahrt.
Von Dietrich Schäfer („Die Hansa", Bielefeld und Leipzig 1903,
Velhagen & Klasing).
Die Meere, die die nördlichen und nordwestlichen Küsten Europas umspülen,
dringen tiefer und buchtenreicher in das Land ein, als das irgendwo sonst auf dem
weiten Erdenrunde der Fall ist. Eine ungewöhnlich große Zahl wasserreicher, schiff-
barer Ströme ergießt sich in diese Meere und ermöglicht Wasserverbindungen in
einem Umfange, der kaum irgendwo übertroffen wird. Besonders durch den letztern
Umstand sind die nördlichen Gebiete Europas stark bevorzugt vor den sonst von der
Natur so reich ausgestatteten Mittelmeerländern.
Dieser Vorzug ist aber erst in neuerer Zeit in der Ausgestaltung des Verkehrs
zur Geltung gekommen. Die Wendung hat das sechzehnte Jahrhundert herbei-
geführt; doch haben erst im achtzehnten und neunzehnten, und ganz besonders im
letztgenannten die nach Norden und Nordwesten gerichteten Gestade Europas die
Mittelmeerküsten völlig überflügelt, diese in so weitem, fast nnausgleichbarem Ab-
stände hinter sich zurückgelassen, daß selbst die Eröffnung eines dem Süden so günstig
gelegenen Verkehrsweges, wie der Suezkanal ist, das beiderseitige Verhältnis nicht
wesentlich zu verschieben vermocht hat. Europa hat sich im Laufe der letzten Jahr-
hunderte gleichsam umgewendet. Während es früher nach Süden und Osten blickte,
sind seine Augen jetzt nach Norden und Westen gerichtet. In den Stromgebieten
seiner nördlichen Meere wohnen seine blühendsten Völker; hier hat es seine reichsten
Städte, entfaltet sein buntestes Leben. Von hier aus schaut es hinaus in die weite
Welt und spinnt die. Fäden, die es mit dieser verknüpfen. Die Geschichte kennt kein
Beispiel einer ähnlich tiefgreifenden und weitwirkenden Wandlung.
Die deutsche Hanse ist es, die wesentlich dazu beitrug, sie vorzubereiten und ein-
zuleiten. Das ist ihre weltgeschichtliche Bedeutung.
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Die Mittelmeerländer traten viel früher in das Licht der Geschichte als die norb-
europäischen Gebiete; zu einer Zeit, wo bie Lanbfchaften von Nord- und Ostsee noch
nichts erlebten, was im Gedächtnis der Menschen bewahrt blieb, waren jene Träger
von Kulturen, wie die Welt sie reicher nicht gesehen hat. Der Grund kann nur in den
natürlichen Verhältnissen gefunden werden. Der sonnige Süden bot dem Menschen
ein behaglicheres Heim unb schenkte ihm um leichtere Mühe, was er zu Nahrung,
Kleidung unb Wohnung bedurfte. Nur burch bie anstrengenbe Arbeit einer langen
Folge von Geschlechtern hat ber Boben bes rauhem Nörtens umgeschaffen werben
können in eine Heimstätte höchster Gesittung. Viel leichter waren bie Gewässer
bes Mittelmeeres zu befahren als bie so häufig von Stürmen gepeitschten, von Nebel
umnachteten, von Regengüssen unb Schneegestöbern heimgesuchten Gebiete ber
nördlichen Meere; Ebbe und Flut und die seichten Küsten erschwerten hier die Schiff¬
fahrt in einer dem Seemann des Mittelmeeres unbekannten Weise. So blieben
diese Gewässer in kimmerische^ Nacht gehüllt, bargen die äußerste Thüle, als das
Mittelmeer längst umsäumt war von blühenden Hafenplätzen, seine Wogen von
1 Die Kimmerer sind ein sagenhaftes Volk, das nach Homer (Od. IX) am Ende des
Ozeans wohnte, wo ewige Nacht herrscht.