Germanische Gastfreundschaft. Der Untergang der Ostgoten. 9
die Tochter des Hauses neben ihn, um ihm vorzuschneiden und den
Becher zu kredenzen.
Wenn die Schlafenszeit nahte, brachten in vornehmen Häusern
gewöhnlich edle Knechte und Knaben die fremden Herren in ihre
Schlafkammern. Höflicher noch war es und zugleich altertümlicher,
wenn der Wirt selbst den Gast zu Bett geleitete und nachsah, ob
für ihn gehörig gesorgt sei. Dieselbe freundliche Sorgfalt suchte ihn
am Morgen wieder auf. Vor seinem Bette fand er frische Wäsche,
und wollte er bald Weiterreisen, so übernahm es die Hausfrau oder
ihre Tochter, ihm die Rüstung anzulegen.
Ehe der Gast aufbrach, ward ihm noch Imbiß und Trank ge¬
spendet. An die Darbietung der Gastgeschenke knüpfte sich oft der
Abschluß eines dauernden Freundschaftsbundes. Gern ward der Gast
ein Stück Weges begleitet und dann mit einem Segensspruch ver¬
abschiedet. Karl Weinhold.
5. Der Untergang der Ostgoten.
Llnter den deutschen Stämmen, die zur Zeit der Völkerwanderung
im Vordergrund der Geschichte standen, erscheint der Stamm der Goten
als der edelste von allen. Keines der anderen Völker war gebildet
wie sie, keines so anerkennend gegen fremde Kunst und Gelehrsamkeit
und so begierig und befähigt, sich diese anzueignen; keines darum so
milde nach dem Siege, so gerecht und nachsichtig gegen die Beherrschten.
Die Goten sind das vorgeschrittenste Volk unter den Germanen. Aber
wie ein genialer Mensch verzehrte es seine Kräfte in allzu hochgespanntem
Streben und starb jung dahin mitten in einer glänzenden Laufbahn.
Was den Westgoten auf dem Gebiete der Religion Wulsila ge¬
wesen, indem er ihnen mit einem Schlage die Bibel zueignete, den
höchsten geistigen Besitz des sinkenden Römertums, das bedeutete für die
Ostgoten auf dem Gebiete des Staates Theoderich der Große, er, der
mit Rat und Befehl einem Fürsten gleich noch über allen Fürsten der
Germanen stand. Freilich nur ein kurzes Dasein war dem ostgotischen
Reiche in Italien beschieden: die nach dem Tode des Begründers ent¬
standenen Wirren wußte der byzantinische Kaiser Iustinian klug zu
benutzen, um seinen Ansprüchen auf das Erbe des weströmischen Reiches
durch die Feldherrnkunst eines Belisar und Rarses Nachdruck zu geben.
Im Jahre 551 rüstete Iustinian eine vierte Expedition gegen die
Goten, deren Oberbefehl er dem Rarses, dem Besieger der Perser,
übertrug. Er erschien in Italien mit einem großen, trefflich aus¬