194 
Carl Justi. 
in dem Bilde eines „wie eine bewegliche Flamme" aufsteigenden 
Menschen. Wenn spätere Maler bei solchen Wundern in den Um¬ 
stehenden das entsetzenvolle Erstaunen über eine physikalische Mon¬ 
strosität ausdrücken, so setzten sie dadurch den Gegenstand der Verehrung 
herab, und der Schwebende war nicht weit entfernt von dem Ein¬ 
druck eines indischen Gauklers. 
Die wahre Kunst wird uns aus der Sphäre der Natur und ihrer 
Gesetze zu entrücken und in eine ganz andere Welt zu versetzen suchen. 
Es ist das Durchscheinen seelischer Zustünde in den Organen seelischen 
Ausdrucks, welches uns innere Wunder ahnen lassen muß, angesichts 
deren es ein Geringes scheint, daß die Materie dem Geist etwas über 
das gewöhnliche Maß hinaus folgt. Das Schweben soll als bloße 
Steigerung einer bedeutenden Geberde erscheinen; als bloße Fortsetzung 
einer sprechenden Bewegung des Körpers, welcher der Würde der 
geistigen Situation nachkommen will; als wunderbarer Zusatz zu jenem 
Blick nach oben, zu jener Erhebung von Haupt und Hand, welche dem 
Menschen so nahe liegt, wenn er das Göttliche denkt, wofern ihn nicht 
die Erinnerung an seine Unreinheit in den Staub wirft. Der geistige 
Gehalt dieser höchsten Gestalt des Gemäldes ist es also, auf den wir 
zuletzt hingelenkt werden. 
Kann man den Versuch wagen, dem Worte Verklärung einen all¬ 
gemeinen Begriff unterzulegen? Es soll im Leben mancher Menschen 
Momente gegeben haben, wo in ihren wohlbekannten Zügen wie ein 
fremdes Wesen erschien, das die Gewohnheit vertraulicher Annäherung 
zurückstieß, als hätte man eine fremde Person mit einer bekannten ver¬ 
wechselt. War es ein höheres Wesen, ein Gott oder ein böser Geist, 
der aus dem Gesicht uns anblickte, über es hinschwebte? Verklärung 
ist eine solche Verwandlung nach der lichten, göttlichen Seite hin. 
Man hat gesagt, jeder Mensch schwanke zwischen seinem Urbild 
und seinem Zerrbild. Das Urbild (die Alten würden es den Dämon 
nennen), das auch der Reinste und Thätigste im Laufe seines Lebens 
nur aus dem Groben formt, hat in solchen Momenten gesiegt; das 
wahre Selbst, das in dem äußerlichen und nichtigen Thun des All¬ 
tagslebens sich verhüllt, durchleuchtet die Erscheinung. Solches sind die 
Momente, in welchen dem Genius seine Werke aufgehen, wo der Wille 
die Gedanken der That und der Selbstverleugnung findet, deren Er¬ 
hebung das ganze Leben trägt, wo der Geist mit dem Schicksal und 
der Ewigkeit Gespräche hält, wo sich der Vernunft das Licht entzündet, 
welches Welt und Leben aufhellt, wo das Gefühl des Daseins so leb¬ 
haft ist, daß die Füße über die Erde zu schweben scheinen. Und 
so werden denen, welche reines Herzens sind, Momente vergönnt, 
wo ihnen der Gedanke und die Nähe des Göttlichen aufgeht, also
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.