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Carl Justi.
in dem Bilde eines „wie eine bewegliche Flamme" aufsteigenden
Menschen. Wenn spätere Maler bei solchen Wundern in den Um¬
stehenden das entsetzenvolle Erstaunen über eine physikalische Mon¬
strosität ausdrücken, so setzten sie dadurch den Gegenstand der Verehrung
herab, und der Schwebende war nicht weit entfernt von dem Ein¬
druck eines indischen Gauklers.
Die wahre Kunst wird uns aus der Sphäre der Natur und ihrer
Gesetze zu entrücken und in eine ganz andere Welt zu versetzen suchen.
Es ist das Durchscheinen seelischer Zustünde in den Organen seelischen
Ausdrucks, welches uns innere Wunder ahnen lassen muß, angesichts
deren es ein Geringes scheint, daß die Materie dem Geist etwas über
das gewöhnliche Maß hinaus folgt. Das Schweben soll als bloße
Steigerung einer bedeutenden Geberde erscheinen; als bloße Fortsetzung
einer sprechenden Bewegung des Körpers, welcher der Würde der
geistigen Situation nachkommen will; als wunderbarer Zusatz zu jenem
Blick nach oben, zu jener Erhebung von Haupt und Hand, welche dem
Menschen so nahe liegt, wenn er das Göttliche denkt, wofern ihn nicht
die Erinnerung an seine Unreinheit in den Staub wirft. Der geistige
Gehalt dieser höchsten Gestalt des Gemäldes ist es also, auf den wir
zuletzt hingelenkt werden.
Kann man den Versuch wagen, dem Worte Verklärung einen all¬
gemeinen Begriff unterzulegen? Es soll im Leben mancher Menschen
Momente gegeben haben, wo in ihren wohlbekannten Zügen wie ein
fremdes Wesen erschien, das die Gewohnheit vertraulicher Annäherung
zurückstieß, als hätte man eine fremde Person mit einer bekannten ver¬
wechselt. War es ein höheres Wesen, ein Gott oder ein böser Geist,
der aus dem Gesicht uns anblickte, über es hinschwebte? Verklärung
ist eine solche Verwandlung nach der lichten, göttlichen Seite hin.
Man hat gesagt, jeder Mensch schwanke zwischen seinem Urbild
und seinem Zerrbild. Das Urbild (die Alten würden es den Dämon
nennen), das auch der Reinste und Thätigste im Laufe seines Lebens
nur aus dem Groben formt, hat in solchen Momenten gesiegt; das
wahre Selbst, das in dem äußerlichen und nichtigen Thun des All¬
tagslebens sich verhüllt, durchleuchtet die Erscheinung. Solches sind die
Momente, in welchen dem Genius seine Werke aufgehen, wo der Wille
die Gedanken der That und der Selbstverleugnung findet, deren Er¬
hebung das ganze Leben trägt, wo der Geist mit dem Schicksal und
der Ewigkeit Gespräche hält, wo sich der Vernunft das Licht entzündet,
welches Welt und Leben aufhellt, wo das Gefühl des Daseins so leb¬
haft ist, daß die Füße über die Erde zu schweben scheinen. Und
so werden denen, welche reines Herzens sind, Momente vergönnt,
wo ihnen der Gedanke und die Nähe des Göttlichen aufgeht, also