Die Auflösung der alten Staatsordnung in Frankreich.
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§ 137. Die Auflösung der alten Staatsordnung in Frankreich.
1. Der Beginn der Revolution. Im Mai 1789 traten die Reichsstände 1789.
im Königlichen Schlosse zu Versailles zusammen. Der Adel und die Geist-
lichkeit hatten nach der Verordnung des Königs je 300, der Bürgerstand
600 Vertreter gewählt. Der dritte Stand forderte gemeinsame Beratung
und Abstimmung nach Köpfen, nicht nach Ständen wie srüher, fand aber
kein Gehör. Nach wochenlangen Verhandlungen brach er den Streit über
diese entscheidende Vorfrage ab, indem er sich auf Antrag des Abbe
Sieyes als die einzige und wahre Nationalversammlung erklärte.
Die Mitglieder zogen, als sie den Sitzungssaal mit Wachen besetzt fanden,
nach dem Ballhause und schwuren, sich nicht zu trennen, bis sie dem Lande
eine Verfassung gegeben hätten. Viele Adlige und Geistliche schlössen sich
dieser Versammlung an. Zu den einflußreichsten Mitgliedern gehörte der
Graf Mirabeau, ein durch Einsicht und Beredsamkeit hervorragender
Politiker, der mit seinen Standesgenossen zerfallen und von den Bürgern
als Vertreter ihres Standes gewählt worden war. Er beantwortete den
Befehl des Königs, auseinanderzugehen und getrennt zu beraten, im Namen
seiner Gesinnungsgenossen mit der Erklärung, sie seien versammelt nach
dem Willen des Volkes und würden nur der Gewalt der Bajonette weichen.
Der König ließ sie in Ruhe: er fügte sich dem Willen der Bürger.
In Paris stieg die Gefahr durch auswärtiges Gesindel, das von rede-
gewandten Hetzern in Wut versetzt und geleitet wurde. Die Truppen singen
an zu meutern und wurden deshalb aus der Stadt entfernt. Zur Aufrecht-
Haltung der Ordnung bildete sich eine Bürgerwehr unter Lasayette, der
ihr die blau-weiß-rote Fahne gab. Trotzdem erstürmte der Pöbel auf die Nach-
richten von Trnppenanfammlungen zwischen Paris und Versailles und von
der Entlassung Neckers am 14. Juli die 33 et stille, ein festes Schloß, das
als Staatsgefängnis und Zwingburg diente und viele Opfer der lettres de
cachet beherbergte. Der König rief Necker zurück und zeigte sich mit dem
dreifarbigen Abzeichen am Hut: er fügte sich dem Willen des Pöbels. Der
Aufruhr aber verbreitete sich in die Provinzen; die erbitterten Bauern
brannten die Adelsschlösser nieder, deren Insassen sich zum großen Teil
über die Landesgrenze, hauptsächlich nach Deutschland, flüchteten.
2. Die Verfassunggebende Nationalversammlung 1789—1791. Unter
dem Eindruck dieser Ereignisse hob die Nationalversammlung in der auf-
geregten Nachtsitzung vom 4. zum 5. August die ganze rechtliche und gesell-
schaftliche Ungleichheit ohne Rückficht auf die bestehenden Verhältnisse mit
einem Schlage auf. Die Bauern wurden von allen Lasten und Lieferungen
für die Gutsherren befreit. Der Adel verlor die Steuerfreiheit und alle
anderen Vorrechte. Die Käuflichkeit der Ämter hörte auf, ebenso die Zünfte
und Innungen. Die nächste Folge dieser „liberte, egalite, fraternitö" war
eine allgemeine Unsicherheit und Unbotmäßigkeit; die Steuern gingen nur
spärlich ein, der Staatshaushalt geriet vollends in Zerrüttung.