95. Das Deutsche Reich unter Wilhelm I. und Friedrich III. 73
An der Spitze steht mit dem Titel „Deutscher Kaiser" der König
von Preußen. Die Kaiserkrone ist also erblich im Mannesstamme der
Hohenzolleru. Der Kaiser vertritt das Reich in seinen Beziehungen zu
anderen Staaten, erklärt nach Zustimmung des Bundesrats den Krieg
und schließt Frieden, hat den Oberbefehl über das Heer und die Reichs-
flotte, beruft und schließt den Buudesrat und den Reichstag nnd er-
nennt die Reichsbeamten. Der höchste Beamte ist der Reichskanzler.
Er leitet namentlich die auswärtigen Angelegenheiten und führt den
Vorsitz im Bundesrate, der aus den Vertretern der deutschen Fürsten
und freien Städte (58 Stimmen, darunter 17 preußische) besteht und
mit dem Kaiser und dem Reichstage die Gesetzgebung ausübt. Der
Reichstag wird vom Volke auf je 5 Jahre gewählt.
Vergleiche das neue Deutsche Reich mit dem alten.
2. Auswärtige Beziehungen. Das Deutsche Reich wurde unter
beit europäischen Staaten wieder die leitende Macht und verwandte
seinen Einfluß zur Erhaltung des Friedens unter den Großmächten.
Eine Gefahr für den Frieden entstand aus dem französischen Rache¬
geschrei und dem russischen Streben nach der Herrschaft über alle
Slaven. Die Republik Frankreich arbeitete mit aller Anstrengung an
der Ausbildung ihrer Wehrkraft und suchte nach einein Bundesgenossen
zum Angriffe gegen Deutschland. Doch blieb der Zar Alexander II.
der Überlieferung seiner Vorsahren treu; das freundschaftliche Verhältnis,
welches zur Zeit der Heiligen Allianz zwischen Preußen, Österreich
und Rußland bestanden hatte, wurde erneuert und fand in mehrfachen
Zusammenkünften der Kaiser („Dreikaiserbund") feilten Ausdruck. Die
deutschfeindliche Partei in Rußland aber erhielt neue Nahrung durch
den russifch-türkischen Krieg 1877—78.
Als „Beschützer" der Slaveu der Balkanhalbinsel, die das türkische Joch ab-
zuschütteln suchten, erklärte Rußland 1877 der Türkei den Krieg. Die Russen
drangen siegreich vor, machten aber, durch die drohende Haltung Englands und
Österreichs bewogen, vor Konstantinopel Halt. Der bedrängte Sultan schloß mit
dem Sieger einen Frieden, dessen Bestimmungen aber von England und Osterreich
solchen Widerspruch erfuhren, daß Rußland Bismarcks Bermittelnng annahm und
einwilligte, mit den übrigen Großmächten auf dem Kongreß zu Berlin 1878 1878.
zu unterhandeln. Mit den Ergebnissen waren die Russen wenig zufrieden und
gaben Bismarck die Schuld.
Die Wetterwolken im Osten und Westen verflogen, als Bismarck
1879 mit Österreich ein Verteidigungsbündnis abschloß, 1879.
das bald daraus durch den Beitritt Italiens sich zu einem mittel¬
europäischen Friedensbunde, dem Dreibunde, erweiterte. Auch
der Zar Alexander III. (1881—94), der den gefährlichen Thron