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Es höret dich der Abendstern 
und winket freundlich dir von fern; 
dir lächelt Luna, wenn ihr Licht 
20 sich millionenfältig bricht. 
Oft eil' ich aus der Haine Ruh 
mit Wonne deinen Wogen zu 
und senke mich hinab in dich 
und kühle, labe, stärke mich. 
25 Der Geist des Herrn den Dichter zeugt, 
die Erde mütterlich ihn säugt; 
auf deiner Wogen blauem Schoß 
wiegt seine Phantasei sich groß. 
Der blinde Sänger stand am Meer: 
die Wogen rauschten um ihn her, so 
und Riesentaten goldner Zeit 
umrauschten ihn im Feierkleid. 
Es kam zu ihm auf Schwanenschwung 
melodisch die Begeisterung, 
und Ilias und Odyssee 35 
entstiegen mit Gesang der See. 
Hätt' er gesehn, wär' um ihn her 
verschwunden Himmel, Erd' und Meer; 
sie sangen vor des Blinden Blick 
den Himmel, Erd' und Meer zurück. 40 
4. fudewig Heinrich Christoph Hölty (1748—1776). 
Gedichte, besorgt durch seine Freunde F. L. Grafen zu Stolberg u. Joh. Heinr. Voß. Ham¬ 
burg 1783. A. Sauer (Kürschner 50, 1). 
1. Das Feuer im Walde. (1772.) 
Zween Knaben liefen durch den Hain 
und lasen Eichenreiser auf 
und türmten sich ein Hirtenfeur. 
Sie freuten sich der schönen Glut, 
5 die wie ein helles Osterfeur 
gen Himmel flog, und setzten sich 
auf einen alten Weidenstumpf. 
Sie schwatzten dies und schwatzten das, 
vom Feuermann und Ohnekopf, 
10 vom Amtmann, der im Dorfe spukt 
und mit der Feuerkette klirrt, 
weil er nach Ansehn sprach und Geld, 
wie's liebe Vieh die Bauern schund 
und niemals in die Kirche kam. 
l5 Sie schwatzten dies und schwatzten das, 
vom sel'gen Pfarrer Habermann, 
der noch den Nußbaum pflanzen tät, 
von dem sie manche schöne Nuß 
herabgeworfen, als sie noch 
2ü zur Pfarre gingen, manche Nuß! 
Sie segneten den guten Mann 
in seiner kühlen Gruft dafür 
und knackten jede schöne Nuß 
noch einmal in Gedanken auf. 
Da rauscht das dürre Laub empor; 25 
und sieh, ein alter Kriegesknecht 
wankt durch den Eichenwald daher, 
sagt guten Abend, wärmet sich 
und setzt sich auf den Weidenstumpf. 
„Wer bist du, guter alter Mann?" so 
„Ich bin ein preußischer Soldat, 
der in der Schlacht bei Kunersdorf 
das Bein verlor und, leider Gotts! 
vor fremden Türen betteln muß. 
Da ging es scharf, mein liebes Kind! 35 
Da sauseten die Kugeln uns 
wie tausend Teufel um den Kops! 
Dort flog ein Arm und dort ein Bein! 
Wir patschelten durch lauter Blut, 
und Roß und Reiter lagen da 40 
wie Kraut und Rüben." — „Lieber Gott!" 
sprach Hans und sahe Töffeln an; 
„mein Seel', ich werde kein Soldat 
und wandre lieber hinterm Pflug. 
Da sing' ich mir die Arbeit leicht 45 
und spring' und tanze wie ein Hirsch 
und lege, wenn der Abend kommt, 
mich hintern Ofen auf die Bank. 
Doch kommt der Schelmfranzos zurück, 
der uns die besten Hühner stahl 
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