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Die Bedeutung des Aristoteles. Während Platon aus der
wirklichen Welt hinüberstieg in eine rein gedachte Welt, blieb Aristoteles
in der wirklichen Welt und beschränkte sich darauf, alle Erscheinungen
auf allen Gebieten menschlichen Lebens und Denkens zu sammeln und
zu sichten und bei allen das Wesentliche und Allgemeine zu sondern
vom Unwesentlichen und Zufälligen. So ist Aristoteles nicht bloß ein
großer Philosoph geworden, sondern auch der größte Gelehrte aller
Zeiten und Völker und der Schöpfer vieler wissenschaftlichen Disziplinen:
der Geologie und der Botanik auf dem Gebiete der äußeren Natur,
der Anatomie und der Physiologie beim menschlichen Körper, der
Grammatik und der Rhetorik bei der menschlichen Sprache, der Poetik
und der Kunstphilosophie bei der schöpferischen Betätigung des mensch-
Itcheii Geistes.
Die Lehre des Aristoteles. Zunächst hat Aristoteles die
philosophische Propädeutik, enthaltend Psychologie und Logik, von
der eigentlichen Philosophie !) getrennt und wissenschaftlich ausgebaut.
Auf dem Gebiete der eigentlichen Philosophie hat er eine große Zahl
der wichtigsten Probleme überaus gefördert, unter anderen die Natur
des Begrifflichen, die Erfordernisse des irdischen Glückes, das Wesen
des Staates und der Gottheit.
Während das Begriffliche bei Platon die Existenz einer geistigen
Person im Ideenhimmel besitzt, hat es bei Aristoteles zwar gleichfalls
objektive Existenz, wohnt aber in den betreffenden Einzelwesen. Dar-
aus folgt aber nicht, daß uns auch das Einzelwesen Wissensobjekt
ist, sondern ein eigentliches Wissen gibt es nur von dem darin liegen-
den Wesentlichen, dem Begriffe.
Die Erfordernisse des höchsten irdischen Glückes sind:
1. Die Tugend und ihre Begleiterscheinung, die Lust' 2. der Besitz der
äußeren Glücksgüter (Gesundheit, Ehre, Reichtum). — Die Tugend ist
zum Glücke unbedingt notwendig; die Glücksgüter sind es nur insofern,
als die menschliche Vernunft sich ohne sie nicht voll entfalten kann.
Die Tugend des Aristoteles beruht nicht allein auf dem
Wissen, sondern auch noch auf angeborener Anlage und langer Aus¬
übung. Die Tugend ist die richtige Mitte zwischen einem fehlerhaften
Zuviel und einem fehlerhaften Zuwenig: virtus in medio. So ist
die Tapferkeit die Mitte zwischen Feigheit und Verwegenheit, die
Freigebigkeit die Mitte zwischen Verschwendung und Habsucht, die
Ehrliebe zwischen Ehrsucht und Mangel an Ehrliebe usw. - Bei der
Tugend der Gerechtigkeit schied er die distributive oder austeilende
von der commutativen oder ausgleichenden Gerechtigkeit; jene verteilt
gleichmäßig die zu verteilenden Dinge, diese belohnt oder bestraft.
Die Lust ist nicht etwas Schlechtes an sich: sie steht daher auch
nicht im Gegensatze zur Tugend, sondern sie ist die natürliche Begleit-
erscheinung jeder erfolgreichen Tätigkeit. Der sittliche Wert der Lust
J) Die eigentliche Philosophie hat man später „Metaphysik" genannt, weil
sie auf Aristoteles' Bücher über die Natur folgte (petot tä yuotxd).