fullscreen: Die deutsche Dichtung des 19. Jahrhunderts in ihren Hauptvertretern

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Seit diesem Abend hatte ich weder Ruh noch Rast mehr. Es war mir be¬ 
ständig zumute wie sonst immer, wenn der Frühling anfangen sollte, so unruhig und 
fröhlich, ohne daß ich es wußte, warum, als stünde mir ein großes Glück oder sonst 
etwas Außerordentliches bevor. Besonders das fatale Rechnen wollte mir nun erst 
gar nicht mehr von der Land, und ich hatte, wenn der Sonnenschein durch den 
Kastanienbaum vor dem Fenster grüngolden auf die Ziffern fiel und so fix vom Trans¬ 
port bis zum Latus und wieder hinauf und hinab addierte, gar seltsame Gedanken 
dabei, sodaß ich manchmal ganz verwirrt wurde und wahrhaftig nicht bis drei zählen 
konnte. Denn die Acht kam mir immer vor wie meine dicke, enggeschnürte Dame mit 
dem breiten Kopfputz, die böse Sieben war gar wie ein wenig rückwärts zeigender 
Wegweiser oder Galgen. Am meisten Spaß machte mir noch die Neun, die sich mir 
so oft, eh' ich mich's versah, lustig als Sechs auf den Kopf stellte, während die 
Zwei wie ein Fragezeichen so pfiffig dreinsah, als wollte sie mich fragen: „Wo soll das 
am Ende noch hinaus mit dir, du arme Null? Ohne sie, diese schlanke Eins und alles, 
bleibst du doch ewig nichts!" 
Auch das Sitzen draußen vor der Tür wollte mir nicht mehr behagen. Ich 
nahm mir, um es bequemer zu haben, einen Schemel mit heraus und streckte die Füße 
darauf; ich flickte ein altes Parasol vom Einnehmer und steckte es gegen die Sonne 
wie ein chinesisches Lusthaus über mich. Aber es half nichts. Es schien mir, wie 
ich so saß und rauchte und spekulierte, als würden mir allmählich die Beine immer 
länger vor Langerweile und die Nase wüchse mir vom Nichtstun, wenn ich so stunden¬ 
lang an ihr heruntersah. — And wenn denn manchmal noch vor Tagesanbruch eine 
Extrapost vorbeikam und ich trat halb verschlafen in die kühle Luft hinaus, und ein 
niedliches Gesichtchen, von dem man in der Dämmerung nur die funkelnden Augen 
sah, bog sich neugierig zum Wagen hervor und bot mir freundlich einen guten Morgen, 
in den Dörfern aber ringsumher krähten die Löhne so frisch über die leise wogenden 
Kornfelder herüber, und zwischen den Morgenstreifen hoch am Limmel schweiften 
schon einzelne zu früh erwachte Lerchen, und der Postillon nahm dann sein Posthorn 
und fuhr weiter und blies und blies — da stand ich lange und sah dem Wagen 
nach, und es war mir nicht anders, als müßt ich nur sogleich mit fort, weit, weit in 
die Welt. 
Meine Blumensträuße legte ich indes immer noch, sobald die Sonne unterging, 
auf den steinernen Tisch in der dunkeln Laube. Aber das war es eben: damit war 
es nun aus seit jenem Abend. Kein Mensch kümmerte sich darum: so oft ich des 
Morgens frühzeitig nachsah, lagen die Blumen noch immer da wie gestern und sahen 
mich mit ihren verwelkten, niederhängenden Köpfchen und darauf stehenden Tautropfen 
ordentlich betrübt an, als ob sie weinten. — Das verdroß mich sehr. Ich band gar 
keinen Strauß mehr. In meinem Garten mochte nun auch das Ankraut treiben, wie 
es wollte, und die Blumen ließ ich ruhig stehn und wachsen, bis der Wind die 
Blätter verwehte. War mir's doch ebenso wild und bunt und verstört im Lerzen. 
Als er einsieht, daß die schöne gnädige Frau, die er liebt, vermählt ist, treibt es ihn 
fort in die Ferne. 
Meine Geige, die ich schon fast ganz vergessen hatte, hing verstaubt an der 
Wand. Ein Morgenstrahl aber aus dem gegenüberstehenden Fenster fuhr gerade blitzend 
über die Saiten. Das gab einen rechten Klang in meinem Lerzen. „Ja", sagt' ich, 
„komm nur her, du getreues Instrument! Anser Reich ist nicht von dieser Welt!" 
And so nahm ich die Geige von der Wand, ließ Rechnungsbuch, Schlafrock, 
Pantoffeln, Pfeifen und Parasol liegen und wanderte, arm wie ich gekommen war, 
aus meinem Läuschen und auf der glänzenden Landstraße von dannen. 
Ich blickte noch oft zurück; mir war gar seltsam zumute, so traurig doch und 
auch wieder so überaus fröhlich, wie ein Vogel, der aus seinem Käfig ausreißt. And
	        
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