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wenn Du dieses vermagst, durch ein bleibendes Werk bezeugt
zu haben.
Dein treuer Vater,
Claudius.
37. Die Blumenlese.
§. 1. Die zarte, unschuldige Therese hatte, so lang der Mai währte,
das Bett hüten müssen. Als sie nun genas und wieder Kräfte gewann, re¬
dete sie von den Blumen und fragte, ob sie auch so schön blüheten, wie im
vorigen Jahre. Denn sie liebte die Blumen sehr, konnte aber nicht hinaus¬
gehen, um solche zu pflücken.
§. 2. Da nahm Erich, der Bruder des kranken Mädchens, ein Körb¬
chen und sagte heimlich zur Mutter: „Ich will ihr die schönsten des Feldes
bringen!" Und so ging er zum ersten Male hinaus in das Gefilde. Denn so
lang die geliebte Schwester darniederlag, hatte er sie nicht verlassen wollen.
Jetzt däuchte es ihm, als sei der Frühling nie so schön gewesen. Denn er sah
und empfand ihn mit einem frommen und liebevollen Herzen.
§. 3. Der fröhliche Knabe lief bergauf, bergab. Wohin er seine
Schritte lenkte, da sangen Nachtigallen, flatterten Sommervögel, und wo ein
Hügel sich emporhob, da blühten liebliche Blumen. Er aber ging und sang
und hüpfte von einer Blume zur andern. Seine Seele war heiter, wie es
über ihm der Himmel war, und sein Auge glänzte, wie das Börnlein glänzt,
was aus Felsen quillt.
§. 4. Endlich war sein Körbchen voll der schönsten Blumen, und oben
darüber lag ein Kranz von Felderdbeeren, wie Perlen an einen Grashalm
gereiht. Lächelnd blickte der glückliche Knabe in sein volles Körbchen, lagerte sich
da, wo WeichesMoos den schattigen Hügel bedeckte, und horchte demWechselge-
sange der Nachtigallen. Aber er hatte sich müde gefreut, selbst der Jubel des
Feldes und das Lied der Nachtigallen schläferten ihn ein.
§. 5. Ruhig schlummerte der holde Knabe. Siehe, da erhob sich am
Himmel ein Gewitter. Dunkel und schweigend zog das Gewölk herauf; Blitze
leuchteten, und die Stimme des Donners tönte immer näher und lauter. Als
jetzt plötzlich der Wind in den Aesten der Eichen braus'te, da erschrak der Knabe
und erwachte. Ringsum sah er den Himmel von drohenden Wolken verhüllt;
kein Sonnenstrahl erleuchtete das Feld. Dem Erwachen folgte, ehe er recht
seiner selbst bewußt war, ein heftiger Donnerschlag. Der arme Knabe stand
betäubt von diesem Wechsel der Dinge.
§. 6. Schon rauschten dicke Regentropfen durch das Laub der Eiche.
Da raffte der erschrockene Knabe sein Körbchen auf und entfloh. Das Gewit¬
ter war über seinem Haupte. Regen und Sturm nahmen überhand; der Don-