29 —
sich auf den Gockel einer Kirchturmspitze und ließ sich hier ein Weilchen
hin und her schaukeln.
Mit einem mächtigen Purzelbaume hüpfte es fort, und im nächsten
Augenblicke saß es ganz ruhig auf den magern Fingerchen eines kleinen,
bleichen Mädchens, das in einem ärmlichen Bettchen lag. Über das
Antlitz des kranken Kindes flog ein Lächeln, und dankbar betrachtete es
den kleinen, zitternden Sonnenschein, der so ganz plötzlich durch das ge—
schlossene Fenster hereingekommen war. „Sieh nur, Elschen, das Sonnen—
scheinchen,“ flüsterte die Mutter des Mädchens, „halte es sest, es tut dir
gut!“ Sonnenscheinchen blieb aber ganz von selbst geduldig bei der
Kranken und diesmal sehr, sehr lange, so lange, daß es das Kind ein—
schlafen und später mit geröteten Bäckchen wieder erwachen sah. Da kam
sich Sonnenscheinchen ganz wichtig und unentbehrlich vor. Es dehnte
und streckte sich vor Stolz und wurde lang und immer länger, bis es
schließlich Händchen, Hals und Gesicht des kranken Mädchens ganz bedeckte.
Die Mutter stand jetzt auf und zog einen Vorhang vors Fenster; Sonnen⸗
scheinchen aber küßte den genesenden kleinen Engel noch einmal schnell
und eilte hurtig davon.
4. Ohne zu wissen, wie es dahin gekommen war, saß es plößzlich
inmitten eines dunkeln Buchladens, wo viele große und kleine Bücher
lagen und standen, und tanzte auf ihnen herum. Aber bald hielt es
inne, denn mit großem Gepolter rollte eine hölzerne Wand vor die ge—
geschlossene Ladentür, und — Sonnenscheinchen war gefangen.
„Ich will jetzt schlafen gehen“, lispelte es mit seinem dünnen, müden
Stimmchen vor sich hin und betrachtete die Bücher genauer, um sich ein
recht schönes als Bettchen zu suchen. Da lagen dicke und dünne, weiße,
rote und blaue, auch vergoldete, mit schönen Bildern. Ganz in der Ecke
aber lag ein Büchlein, das vor Langeweile hintenübergefallen war, und
als Sonnenscheinchen neugierig näher zusah und blätterte, potztausend,
was für ein Schreck! Da stand gleich vorn deutlich und schön zu lesen:
„Das Sonnenscheinchen!“ Das war es ja selbst! Sonnenscheinchen las
und las und wurde traurig bei den Unarten und wieder heiter bei den
guten Taten, die es von sich las, und hoch und teuer schwur es, von
Stund' an nur noch Gutes zu tun. Vom Lesen müde, schlief es auf
seinem Büchlein bald ein.
Als es am nächsten Morgen erwachte, war es schon heller, lichter
Tag, und Sonnenscheinchen putzte sich blank und tanzte lustig davon, die
Ohlauer Straße hinunter, um sein Tagewerk zu beginnen.
Ob sich Sonnenscheinchen an seinen guten Vorsatz von gestern noch
erinnert hat? HQeinz von Hardenberg.