§ 1212. Die geschichtlichen Vorgänge der Jahre 1865 bis 1870. 1059
werfen hatte, traten die letzten Grundsätze und Zielpunkte seiner Politik immer klarer zu
Tage. Er betrachtete sich als den berufenen Vollender des gewaltigen Gebäudes römi¬
scher Kirchenherrlichkeit. Selten war ein Papst von willigeren Bischöfen umgeben ge¬
wesen als Pius IX. bei der Versündigung seines Dogma's, dann wieder bei der großen
Heiligen-Promotion von 1862, bei dem Säcularseste Petri 1867 und bei seinem eigenen
Priesterjubiläum 1869: „Feste, aus deren Geschmack ihm wohl das Verlangen ge¬
kommen ist, auch die höchste Feier der Kirche, ein ökumenisches Concil zu erleben".
Schien es ihm doch ganz besonders in seiner Mission zu liegen, das katholische Dogma
selbst an den beiden Punkten, wo es noch Lücken bot, die „Mutter Gottes" und die
Machtbefugnis des Papstes betreffend, zu ergänzen und auszufüllen. In letzterer Be¬
ziehung namentlich war es fett den Zeiten der großen Concilien des fünfzehnten und
sechszehnten Jahrhunderts noch fraglich geblieben, ob jene Unfehlbarkeit in Glaubens¬
sachen, welche eine, unbedingte Hingebung fordernde Kirche jedenfalls sich beilegen muß,
ihr Organ in den allgemeinen Kirchenversammlungen oder im römischen Papste zu suchen
habe. Die ganze neuere, vorzugsweise vom Jesuitismus geleitete Entwickelung der
Curialpolitik ging von der letzteren Voraussetzung aus. Aber schon die kühle Ausnahme,
welche der seit dem Syllabus auftauchende Gedanke eines ökumenischen Concils unter
den Bischöfen Deutschlands und Frankreichs fand, konnte zeigen, wie wenig gerade bei
den gebildetsten Kirchenfürsten des gegenwärtigen Katholicismus Lust und Trieb vorhanden
war, das feit dreihundert Jahren nicht mehr in Wirksamkeit getretene Institut eines allge¬
meinen Concils im neunzehnten Jahrhundert blos zu dem Zwecke noch einmal aufleben zu
taffen, um zu Gunsten des Papstes in aller Form abzudanken und ihn zum Universalerben
der alten Synodalautorität einzusetzen. Sogar das Cardinalscollegium hatte dem hei¬
ligen Vater abgerathen. Dennoch erfolgte die Berufung, und zwar in möglichst ökume- 29. Zum
nifcher Form, selbst an die Bischöfe der orientalischen Kirche gerichtet, von denen sie nicht 1869*
angenommen wurde; auch an die Protestanten erging eine Einladung, die Gelegenheit 13. Sepr.
des Concils zu ergreifen, um in den „einigen Schasstall Petri'' zurückzukehren. Eine
dogmatische Commission, in welcher die Jesuiten Perrone und Schräder das große
Wort führten, bereitete während des Winters die Ausgaben des Concils vor, und bald
genug zerstreute das anerkannte Organ des Papstes, die von Jesuiten geschriebene
Civiltä cattolica, die letzten Zweifel der ungläubigen und erstaunten Welt hinsichtlich
dessen, was im Vatican geplant wurde. Den Papst für unfehlbar zu erklären, erschien
dieser Partei als die bündigste Sicherstellung des, bei allgemeinem Wanken aller andern
Autoiitäten allein noch Festigkeit unb Dauer verheißenden Felsen Petri wiber feinbfeligc
Staaten unb Kirchen, wiber menschliche Freiheit unb Neuerungsfucht, wiber zerfetzenbe
Dulbfamkeit und vernünftelnde Wissenschaft, wider allen Irrthum und alle Sünde der
Gegenwart und Zukunft. Die ganze Sache in Scene zu fetzen war der Erzbischof von
München, Cardinal Reis ach, ersehen, welcher in Rom den Ruf hatte, im Besitz des
Geheimnisses deutscher Wissenschaft zu stehen und hinter deren Nichtigkeit gekommen zu
fein. Jetzt wurden auch die Staatsmänner aufmerksamer auf diesen Handel, welcher,
weil auf Generalfanction aller jemals von Päpsten dem Staate gegenüber erhobenen
Ansprüche hinzielend, ganz dazu angethan schien, ein neues und dauerndes Zerwürfnis?
zwischen weltlicher und geistlicher Macht hervorzurufen und ber Unabhängigkeit unb Sou-
beränetät der Staaten bedrohlich zu werden. In einem diplomatischen Rundschreiben bean¬
tragte der bayerische Minister, Fürst Hohenlohe, Konferenzen der Regierungen, um
i einen Plan zum Schutze ihrer gemeinsamen Interessen zu entwerfen. Aber in Folge bet
1 Ablehnung dieses Vorschlags durch ben österreichischen Reichskanzler Beust ließen die
! Mächte ben Gedanken einer Confcrenz fallen; die uüramontanePartei benutzte sogar diese
? Angelegenheiten, um den bayerifchen Minister bald darauf aus dem Amte zu bringen, und in
r Frankreich vereinigten sich die Stimmen des kurzsichtigen Ollivier unb seiner Freunde
l mit benen ber Ultramontanen in ber Forberung einer, von Seiten bes Staates einzn-
1 haltenben absoluten Neutralität. Da zugleich auch Preußen in feiner grundsatz-
r mäßig refervirten Haltung in katholisch-kirchlichen Fragen beharrte, schienen die Dinge
Vfür die Ansprüche des Papstes günstig zu liegen und man machte sich wenig daraus, daß
i ber moderne Liberalismus das Unternehmen mit einstimmigem Hohne begrüßte, ja daß
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