§. 1281. Der Gang des geschichtlichen Lebens seit dem Frankfurter Frieden. 1189
Abhülfe schaffe durch Abänderung der Gemeindeverfaffung; bei der stürmischen Debatte
wurde gegen einen klerikalen Eiferer der Ordnungsruf ausgesprochen: seine Gesinnungs¬
genossen wollten die Rüge nicht gelten lassen. Dadurch sah sich Gr6vy, eine der
zuverlässigsten Stützen von Thiers, bewogen, den Vorsitz niederzulegen. Darauf wählte
die monarchisch-klerikale Mehrheit einen der Ihrigen, den Abgeordneten Buffet zum 4,Btil
Präsidenten; die Radikalen dagegen bewirkten, daß bei einer Ergänzungswahl in Paris *7''
der abgesetzte Maire von Lyon, Baraudet, in die Nationalversammlung gewählt ward.
Nicht nur der Candidat der Rechten, sondern der Minister Rsmusat, den die conser^
vativen Republikaner begünstigten, blieb in der Minderheit. Dieses Hervortreten der
Demokratie führte die monarchistischen Elemente aller Schattirungen einander näher.
Unter solchen Umständen war es für Thiers ein gewagtes Unternehmen, als er der
Nationalversammlung gleich nach den Osterferien Entwürfe zur Errichtung einer ersten Mai.
Kammer, zu einem Wahlgesetz und zu einem Gesetz über die Befugnisse des Präsidenten
vorlegte und sie nochmals zur definitiven Proclamirung der Republik aufforderte. Er
selbst hatte kurz zuvor die Reihen seiner Gegner verstärkt, indem er bei einem Wechsel
im Ministerium nicht zu dem rechten Centrum griff, sondern den gemäßigten Republikaner
Casimir Perier aus der linken Seite desselben in das Cabinet berief. Dies
verdroß die ehrgeizigen ämtersüchtigen Männer, meistens Orleanisten, die bisher fast
ausschließlich die Ministerstellen inne gehabt, und viele aus ihrer Mitte traten in die
monarchistische Opposition. Anstatt nun sofort zu den Verhandlungen über die Regierungs¬
vorlagen zu schreiten, wurde auf Changarniers Antrag ein Tadelsvotum über die letzte
Ministerwahl ausgesprochen. Dies bewog das Ministerium zum Rücktritt. Auch23- Mai.
Thiers reichte sein Demissionsbegehren ein und erlebte die nicht verdiente und wohl
auch nicht erwartete Kränkung, daß es von der Mehrheit der Nationalversammlung
angenommen und der Marschall Mac Mahon, Herzog von Magenta, an seiner
Stelle zum Präsidenten der Republik gewählt ward. Nachdem dieser die Wahl an¬
genommen, übertrug er dem Herzog von Broglie, der die ganze Intrigue gegen
Thiers gesponnen und geleitet hatte, die Bildung eines neuen Ministeriums, in welchem
die Monarchisten die Oberhand hatten. Gegen alles Erwarten ging diese innere
Revolution ohne alle Störung vor sich; ein Beweis, daß sich die Nation zu dem
Parteileben früherer Jahre noch nicht zu sammeln und zu erheben vermocht hatte.
Selbst die Republikaner auf der Linken verhielten sich still, günstigere Tage abwartend.
Denn wenn sie auch bisher zu Thiers gestanden, so war er doch nicht der Mann
nach ihrem Herzen. Und was hätten sie durch agitatorische Bewegungen erreichen
können gegenüber dein „Marschall-Präsidenten", welcher die Armee zu seiner Verfügung
hatte und der Nationalversammlung, in welcher sich die drei Gruppen der Monarchisten
zu einer Coalition die Hand reichten? Am meisten gewannen die Bonapartisten durch
den unblutigen Staatsstreich. Während sie bisher von allen politischen Fraktionen
zurückgestoßen worden waren, traten sie jetzt als eigene Partei in den Ringkampf ein.
Die 30 Stimmen, die der redegewandte, intrigante Rouher gegen Thiers in das
Feld führen konnte, hatten zu dessen Sturz wesentlich beigetragen. Aber Napoleon IV.,
dessen Fahne sie emporhoben, weilte mit seiner Mutter, der Kaiserin Engenie, in der
Verbannung, indeß die Orleaniden, im Besitze unermeßlicher Reichthümer seit der
Rückerstattung ihrer Familiengüter durch die Nationalversammlung, in Paris und
Versailles eine ehrenvolle Stellung einnahmen und der letzte Bourbon, der Enkel
Karls X., in seinem Schloß Chambord unweit Blois, von dem er den gräflichen
Namen führt, ab und zu seinen Aufenthalt nahm, von den Legitimisten und Klerikalen
im Herzen als künftiger „Roy" ausersehen. ^ _
§. 1281. Die Hoffnungen der Klerikalen und Legitnrnsten. So
erlebte denn die Welt den in der Geschichte einzigen Fall, daß ein geschlagener Feldherr,
der es nur einer im rechten Augenblick erhaltenen Wunde zu danken hatte, daß nicht
die Katastrophe von Sedan sich unter seiner Leitung vollzogen, an die Spitze eines
militärischen Großstaats emporgehoben ward, freilich nicht durch eigene Kräfte oder
Verdienste, sondern durch wenig ehrenhafte Hebel und Mittel. Um dem ungläubigen,
freigeistigen Republikanismus die Stirne bieten zu können, stützte sich das neue Regiment