96 Die Zeit der Gegenreformation. §. 632. 
casuistische Lehre, daß der Zweck das Mittel heilige und daß ausgesprochene 
Worte und Eide keine Gültigkeit hätten, wenn der Geist anders denke (geistiger 
Rückhalt, reservatio mentalis), wurde von den Jesuiten auf eine vermessene Weise in 
Anwendung gebracht. Selbst Königsmord, sofern dadurch der Kirche ein Dienst 
geschehe, fand Rechtfertigung, daher die Zeitgenossen die Ermordung Heinrichs IV. und 
Wilhelms von Oranien und die Nachstellungen, von denen Elisabeths Leben bedroht war, 
den Eingebungen der Jesuiten zuschrieben. List und Gewalt, Ränke und Verrath, Ver- 
läumdungen und Verhetzungen waren erlaubte Mittel, wenn es galt, die Rechte der 
Protestanten zu verkümmern und die Schwachen oder Gedrückten in den Schooß der alten 
Kirche zurückzuführen. Das friedliche Zusammenleben der verschiedenen Consessionen 
wurde durch die Jesuiten gestört; darum lastete auf ihnen der Haß der Völker und der 
Fluch der Familien, deren Frieden sie untergruben. In großartiger, welthistorischer 
Wirksamkeit beherrschten sie über zwei Jahrhunderte das katholische Europa, trotz des 
Neides der andern Orden und des Argwohns einiger Regierungen. 
§. 632. Unterrichtswesen. Der Unterricht der Jesuiten bezweckte nicht eine Entwicke¬ 
lung des jugendlichen Geistes zum selbständigen Denken und zur Befähigung, alles menschlich 
Wichtige zu erkennen und zu beurtheilen, sondern nur das Erlernen der im praktischen Leben an¬ 
wendbaren Kenntnisse. Es war mehr ein Abrichten als ein Unterrichten. Die Jesuitenzöglinge 
wurden fähig gemacht, in dem ihnen vom Schicksal angewiesenen Stand und Berns zu wirken, den 
Posten, auf den sie gestellt waren, auszufüllen und als brauchbare Geistliche, Lehrer oder Gewerb- 
leute ihrer Bestimmung nachzukommen, ohne sich um das, was über oder außer ihrem Bereich 
lag, zu kümmern. Wie die Jesuiten selbst nur als Werkzeuge eines höhem Willens ihren bestimm¬ 
ten Zweck auf gewiesener Bahn verfolgten, so sollten auch alle Zöglinge handeln und denken. 
Geistesfreiheit schien ihnen eine gefährliche und nutzlose Sache. Alle Wissenschaften wurden daher 
in eine bestimmte, engbegrenzte Form gebannt; der Gedanke, der dieselbe zu durchbrechen strebte, 
war ein sündhafter. Alle Religionssatzungen, Gebräuche und Einrichtungen der römischen 
Kirche wurden als göttliche Wahrheiten, deren genaue Befolgung allein zum Himmel führe, über 
allen Zweifel gestellt; die Philosophie war ein Formelwesen, durch das der Geist gefesselt, statt 
zum Nachdenken angeregt ward, die Geschichte war eine chronikartige Zusammenstellung ver¬ 
gangener Ereignisse, nicht ein lebendiges Bild von dem Leben der Völker, und die Charaktere der 
Menschen, ihre Ideen und Bestrebungen wurden nur nach dem Maßstabe, den die römische Kirche 
dafür aufgestellt, beurtheilt. Fertigkeit in der lateinischen Sprache galt für eine nothwendige 
Eigenschaft des Gebildeten; damit sich aber nicht der freie Geist des Alterthums in das jugendliche 
Herz einschleiche, las man die Klassiker nicht vollständig, sondern nur in Auszügen oder verstüm¬ 
melt. Die Jesuiten gründeten ihr Erziehungssystem auf die unlautern Triebe und Regungen 
der Menscheit, aus den Ehrgeiz, auf die Selbstsucht, auf den Eigendünkel; statt das weiche und 
empfängliche Herz der Jugend der Menschenliebe zu öffnen, füllten sie es mit engherzigem Cou- 
fessionshaß; statt unter den Zöglingen Vertrauen, Freundschaft und Bruderliebe zu pflanzen, such¬ 
ten sie durch Aufstachelung des Ehrgeizes, durch Beförderung der gegenseitigen Ueberwachung und 
Angeberei, durch strenge Censuren und Belobungen Mißtrauen, Neid, Schadenfreude zu erregen. 
Ihre Wirksamkeit war um so größer und sicherer, weil sie fern von allem Idealen aus der wirk¬ 
lichen Beschaffenheit der menschlichen Natur fußte, die leider! mehr nach der Erde als nach dem 
Himmel strebt. Wer sich der menschlichen Schwächen und Fehler zur Erreichung seines Ziels 
bedient, geht sicherer, als wer auf Tugend und Edelmuth baut; aber eine Erziehung, die sich diesen 
traurigen Umstand zu Nutze macht, um durch Cultivirnng der menschlichen Gebrechlichkeit desto 
sicherer über die Zöglinge zu herrschen, sie desto mehr zum unbedingten Gehorsam zu gewöhnen, 
ruht auf schlechtem Boden. Mag eine solche Erziehungsweise auch noch so sehr bemüht sein, durch 
strenge Disciplin die äußern Unarten zu entfernen, den widerspenstigen Geist der Jugend zu 
brechen, Geschick und Fügsamkeit in allen Verhältnissen zu erzeugen; das Hauptziel jeder wahrhaften 
Erziehung, Veredelung des Menschen, wird dabei gänzlich verfehlt. Im Erziehungswesen, in 
1684. das Aqnaviva's Schnlplan System, Planmäßigkeit und Conseqnenz brachte, gab demnach der 
Jesuitenorden mehr als in den übrigen Unternehmungen die kluge Berechnung der Umstände und 
der menschlichen Natur in ihrer Gebrechlichkeit kund.
	        
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