§• 130§. Geschichte Europa's in den Jahren 1875—1883. 1265 
größeren Ansprüchen auftreten, eine um so entscheidendere Stimme führen zu können. 
Trotz der Ungunst der Witterung und der Jahreszeit bewältigten die auf Sofia los. 
rückenden Garden Skobelews mit leichter Mühe jeden Widerstand, umzingelten dann, 
mit der Armee des Generals Radetzky vereinigt, die in dem Schipkapaß aufgestellten 
türkischen Truppen und zwangen sie nach mehrstündigem Kampfe zur Ergebung.9' ?8a7n8“ar 
30,000 Mann sammt dem Commandanten geriethen dadurch in russische Kriegs¬ 
gefangenschaft. Kurz vorher war auch der Trajauspaß besetzt worden. Wer sollte den 
russischen Heeren den Marsch nach Konstantinopel verlegen? Die Moskowiter ver¬ 
kündeten jubelnd, daß der Pariser Frieden vernichtet werden müßte durch einen andern 
Frieden, den der Zar in Constantinopel biethen würde; sie sahen schon im Geiste 
das griechische Kreuz aus ber Hagia Sophia aufgepflanzt. Vergebens suchten bie 
Engländer zu vermitteln; in Petersburg lehnte man jebe Einmischung ab; vergebens 
sanbte ber Sultan zwei Bevollmächtigte, Server unb Namyk Pascha, nach Kasanlik, 
um mit bem Großfürsten Nicolaus über Friebensbebingungen zu unterhandln; bie 
Operationen im gelbe würben darum nicht eingestellt. Die Einnahme von Philip¬ 
popel unb Abrianopel schnitt bem von Gurko verfolgten Suleiman Pascha bie Rück- Januar, 
zugslinie nach Constantinopel ab. Er zog mit ben Trümmern seines Heeres sübwärts, 
um sich in ben Häsen bes ägeischen Meeres nach Stambul, bem letzten Stützpunkt 
bes Osmanenreiches, einzuschiffen. Er war ein Heerverderber, ben in ber Folge 
ein Kriegsgericht zu längerer Gefängnißstrafe vernrtheilte. Jetzt nahm ber Großfürst 
Michael seinen Aufenthalt in Abrianopel, wo bie Friedensverhandlungen fortgesetzt 26i8?8an' 
werden sollten. Diese unerwarteten Erfolge der russischen Waffen belebten die Kriegs¬ 
politik des _ Londoner Torycabinets. Lord Beaconsfielb ließ sich vom Parlamente 
einen Crebit bewilligen und gab bem Abmiral Hornby bie Weisung, mit einer 
Flotte in bie Darbanellen einzufahren. Doch kam es zu keiner kriegerischen Action, 
ba Schuwalow beruhigende Zusagen gab unb am letzten Januar zwischen Jgnatiew 
und den türkischen Abgeordneten der Waffen still st andvonAdrianopel geschlossen 3L Ja», 
ward, um Zeit für Friedensverhandlungen zu gewinnen. Auf Grund der in Adria¬ 
nopel vereinbarten „Friedensbasen" wurde dann einige Wochen nachher der Präli¬ 
minarfrieden von SauStefauo zwischen Rußland und der Türkei abgeschlossen, 3- März, 
in welchem die Fürstentümer Serbien, Rumänien und Montenegro für unabhängig 
erklärt wurden und Gebietserweiterungen erhielten, Bulgarien in denjenigen Grenzen, 
die sich aus der Majorität der bulgarischen Bevölkerung ergaben, zu einem autonomen 
Tributär-Fürstenthum erhoben ward mit einer nationalen christlichen Regierung und 
einer aus Eiugebornen bestehenden Miliz, die Türkei eine Kriegsentschädigung von 
1410 Millionen Rubel bezahlen sollte, wovon 1000 Millionen durch Gebiets¬ 
abtretungen in Asien entrichtet werden könnten. Bosnien und die Herzegowina sollten 
eine autonome Administration erhalten mit Reformen unter Garantie der Mächte. 
Wie der Zar einst in Livadia versichert, verlangte somit Rußland, keinen oder doch 
nur geringen, Gebietszuwachs für sich selbst. Aber der russische Stolz ertrug _ es 
nicht, daß der Landstrich Beßarabien im Norden der Donau, der einst im Pariser 
Frieden an Rumänien abgetreten worden, noch länger in fremden Händen bliebe. So 
wurde denn verlangt, daß Fürst Karl jenen Landstrich herausgeben und dafür im 
Süden des Stromes mit der Dobrudscha entschädigt werden sollte, ein ungroßmüthiger 
Ausgleich für den treuen Wassengenossen, gegen den Fürst und Volk vergebens Ein¬ 
spruch erhoben. Nach dem Abschluß dieses Präliminarfriedens verlegte Großfürst 
Michael sein Hauptquartier nach San Stefano, einem kleinen Orte am Marmara- 
Meer, südwestlich von Konstantinopel und sandte seine Glückwünsche an den Kaiser,^ ^ 
der den Vertrag am 17. März bestätigte. Mit Begeisterung wurde die Nachricht W1' 
von dem russischen Volke begrüßt. In England aber war man höchst unzufrieden mit 
dem eigenmächtigen Vorgehen Rußlands. Das Toryministerium, wo an Derby'L 
Stelle der entschlossene Lord Salisbury das auswärtige Amt übernommen, verlangte, 
daß der Gesammtvertrag einem europäischen Congreß zur Beschlußfassung vorgelegt 
werde. Als Rußland nur „die Fragen, welche das europäische Interesse berührten", 
einem solchen Areopag unterbreiten wollte, geriethen die diplomatischen Verhandlungen 
Weber, Geschichte II. 80
	        
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