§. 1137c. Die neuere Volkswirthschaftslehre und die sociale Bewegung. 881
früheren Nationalökonomen den Anspruch, für alle Zeiten. Völker. Culturstufen und Ent¬
wicklungsperioden absolut gültige Gesetze und Wahrheiten, eine allgemeine normale
Wirthsckaftstheorie aufzustellen, so verzichtete die „historisch-realistische" Richtung
aus diesen Anspruch, die absolute Wahrheit, die von praktischen und historischen Zustan¬
den absehende „Jdealökonomie" finden zu wollen, und erkannte an, daß die Menschheit
in einem fortwährenden Bilduugs- und Bewegungsprozeß, im Auf- und Absteigen, in
den verschiedensten Culturentwicklungen begriffen ist. daß ein wirtschaftliches Gesetz zu
einer Zeit und bei einem Volk richtig und heilsam sein kann, zu einer andern Zeit und
bei einem andern Volk falsch und schädlich. Die „historische Schule" ist damit vorzugs¬
weise geeignet, die gegensätzlichen Resultate der verschiedenen nationalökonomischen Sy¬
steme zu vermitteln, zu versöhnen, zu einem harmonischen Ganzen zusammenzufassen.
Dieser Richtung zur wissenschaftlichen Geltung verholfen zu haben, ist vas Verdienst von
Wilh. Roscher,' Professor in Leipzig, einem Gelehrten von den gründlichsten und viel¬
seitigsten staatswissenschaftlichen und historischen Kenntnissen uud der Gabe geistvoller
Darstellung. Einer ähnlichen Richtung huldigten Karl Knies. Profeffor in Heidelberg
und Bruno Hildebraud iu Jena. Die Statistik haben Wappäus in Göttingen und
Engel in Berlin zu hoher Blüthe und praktischer Bedeutung gebracht. In der neusten
Entwicklung der deutschen Nationalökonomie sind besonders die zwei großen Gegensätze
der „Manchestermänner" und der „Kathedersocialisten" hervorgetreten, wie die
beiden Richtungen von ihren Gegnern mit einigem Spott bezeichnet zu werden pflegen.
Das charakteristische Merkmal der beiden Richtungen ist die Auffassung, die sie von der
Aufgabe des Staats gegenüber dem wirtschaftlichen Leben hegen. Die sog. Manchester¬
partei, auf den Lehren von Adam Smith fußend, huldigt dem Prinzip des »Laisser faire«,
der freisten Entwicklung der socialen und wirtschaftlichen Verhältnisse mit möglichst
wenig Eingreifen der Staatsgewalt und der Gesetzgebung, dem Grundsatz. daß die freie
Concumnz alle Leiden heile; sie vertritt namentlich mit größter Entschiedenheit das Prin¬
zip des Freihandels. Ihr gehören Männer wie Prince-Smith, Faucher, Schulze-
Delitzsch und eine Reihe bekannter liberaler Parlamentarier wie K. Braun, Bam-
berger, Eugen Richter u. A. an. Gegen den einseitigen Doktrinarismus dieser
Schule hat sich dann jene als „Kathedersocialrsten" bezeichnete Richtung erhoben, welche
dem Staat auch in wirtschaftlichen Dingen eine activ eingreifende Aufgabe zuschreibt
und meist auch die Berechtigung der Schutzzölle anerkennt. Dahin gehört eine Reihe
jüngerer academischer Lehrer, wie Adolf Wagner und G. Schmoller in Berlin,
E. Nasse in Bonn, der frühverstorbene A. Held. Noch mehr wirkliche Annäherung an
die socialistischen Lehren findet sich bei dem geistreichen Schaffte, eine Zeitlang Mitglied
des österreichischen Ministeriums.
§. 1137c. Sociale Reformen und Umsturzbestrebungen. Der wissenschaft-
lichen Forschung traten praktische Reformbestrebungen zur Besserung der Lage der untern,
arbeitenden Klaffen, auf Grund der bestehenden Ordnung und nach einem erreichbaren Ziele
zur Seite. In dieser Hinsicht hat in Deutschland Hermann Schulze-Delitzsch, ein Veteran
des politischen Fortschritts, eine segensreiche Wirksamkeit entfaltet. Als „Anwalt der deutschen
Genossenschaften" hat er der Arbeiterfrage ein langes erfolgreiches Leben gewidmet und das
Affociationswesen in seinen verschiedenartigsten Gestaltungen zu geselligen, Bildnngs-, Unter¬
stützungszwecken und zur Erreichung gemeinschaftlicher Interessen mächtig gefördert, allerwärts
Arbeitergenossenschaften mit praktischen Zielen für Erwerbs- und Wirthschaftszwecke, Volks¬
banken, Rohstoff-, Consum-, Vorschuß-, Krankenkassen- und dergleichen Vereine ins Leben
rufend, welche den Genossenschaften der Arbeiter die Vortheile des Großbetriebs und des
billigeren Warenbezugs ihrer Bedürfnisse verschaffen sollten. Dabei sollte die Mitwirkung des
Staats nur in so weit eintreten, daß er alle Fesseln des Verkehrslebens beseitige. Das Frei-
handelssystem mit dem Grundsätze unbedingter Freiheit des Eigenthums und der Verträge,
der Arbeit und des Verkehrs, schien eine ausreichende Bürgschaft zu sein für den wachsenden
Wohlstand Aller, für vermehrte Gütererzeugung und für naturgemäße Gütervertheilung, stets
unter der Bedingung, daß kein fremder Zwang, keine bindende Vorschrift des Staats in das
ökonomische Treiben der Einzelnen störend eingreife. Allein neben die theoretischen Forscher
und die praktischen Reformatoren traten die Schwarmgeister, Phantasten und Agitatoren, die
in der Erregung des Klaffenhaffes, in der Aufstachelung des Neids der Besitzlosen, in der
Schürnng der bösen Leidenschaften ihr auf allgemeinen Umsturz der bestehenden Ordnung ge¬
richtetes Streben verfolgten. Mit der Schilderung der Ungerechtigkeiten uud Härten dieser
Welt, wo der Arbeiter, der moderne Sclave, von dem ehernen Joch des Kapitals nieder¬
gedrückt wird, wo die Lebensgenüsse und die Lasten aufs unbilligste vertheilt sind, mit dem
sinnberückenden Hinweis auf ein Dasein allgemeiner Glückseligkeit und auf den schrillen
Weber, Geschichte U. 56
Roscher
geb. 1817.
Schulze-
Delitzsch
1808—1883.