1. Quellen der Geschichte.
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Außer den Steininschriften besitzen wir aus dem Altertum eigentliche Geschichts¬
werke. Griechische und römische Schriftsteller haben auf Papyrus- und Pergament¬
rollen die Ereignisse ihrer Zeit und der Vergangenheit, die Taten des eignen Volkes
und fremder Völker dargestellt, wobei sie sich teils auf eigne Erlebnisse stützten, teils
auf mündliche Überlieferung, teils auf die Berichte früherer Geschichtschreiber.
Als „Vater der Geschichte" gilt mit Recht Herodot aus Halikarnaß, der zur Zeit
des Perikles den Kamps der Griechen gegen die Perser darstellte. Was wir an Ge¬
schichtsquellen aus dem Mittelalter besitzen, verdanken wir vorzugsweise den
Aufzeichnungen der Geistlichen, der Träger literarischer Bildung. Es sind großen¬
teils Chroniken (z. B. Klosterchroniken), die in lateinischer Sprache abgefaßt wurden.
Seit dem Beginn der Neuzeit fließen die Quellen reichlicher. Der Sinn für geschicht¬
liche Forschung erwachte durch den Humanismus und wurde mächtig gefördert durch
die Erfindung der Buchdruckerkunst.
Man kann die geschriebenen Quellen einteilen in direkte und indirekte. Als
direkte sind Schriften zu betrachten, die allein mit der Absicht abgefaßt sind, der Mit»
und Nachwelt die Kenntnis geschichtlicher Tatsachen zu vermitteln, als indirekte solche,
die nur gelegentlich geschichtliche Aufschlüsse geben. Die direkten Quellen befassen
sich mehr mit der politischen Geschichte, die indirekten berühren mehr das Volks¬
leben, die Kulturgeschichte.
Der höfische Epiker Heinrich von Veldeke beschreibt in seiner Ene'it das
Reichsfest zu Mainz im Jahre 1180; Gottfried von Straßburg ergreift in
Tristan und Isolde die Gelegenheit, sein Urteil über die zeitgenössischen Dichter abzu¬
geben. Desgleichen macht er in demselben Werke durch die Schwertleite uns mit
den Anforderungen bekannt, die die Zeitgenossen an den Ritter stellten, und beschreibt
zugleich die Vorgänge bei der Wehrhaftmachung. Aus dem Nibelungenliede erfahren
wir unter andern die mittelalterliche Anschauung über das Bahrrecht. Das Gudrun-
lied versetzt uns in die Sagenwelt der Nordseevölker. Sogar die lyrischen Dichter
bringen gelegentlich geschichtliche Quellennachrichten1. Um ein neuzeitliches Beispiel
zu wählen, die schwedische Dichterin Selma Lagerlöf hat ein gutes Stück der Kultur¬
geschichte ihres Heimatlandes in ein märchenhaftes Gewand gekleidet unter dem
Titel: „Des kleinen Ms Holgersson Reise mit den Wildgänsen".
Wichtige Quellen sind Gesetze, Urkunden und Berichte der Gesandten an ihre
Höfe. Besonders haben die Gesandten Venedigs ihre Regierung mit eingehenden
Berichten aus den Ländern versehen, in denen sie die Interessen der Lagunenrepublik
vertraten. Des Demosthenes' und Ciceros Reden sind schätzenswerte Quellen der
Zeitgeschichte. Lebenserinnerungen und Briefe lassen oft die verborgenen
Fäden der Politik offen ans Tageslicht treten.
Von großer Bedeutung ist auch die Sprache. Aus der Verwandtschaft der
Sprachen schließen wir auf die der Völker und aus dem Wortschatz einer Sprache
auf den Kulturzustand des Volkes. Haben mehrere Völker für einen Gegenstand
das gleiche Wort, und läßt sich nachweisen, daß es nicht durch Entlehnung aus einer
Sprache in die andre übergegangen ist, so ist dies ein Beweis, daß die Völker den
Gegenstand schon vor ihrer Trennung gekannt haben.
Sogar manche Ortsnamen enthalten geschichtliche Fingerzeige. Auf der
Strecke von Lille nach Calais kommt man an Bahnstationen vorbei, die auf „hem"
1 Vgl. Theodor Schauffler, Quellenbüchlem zur Kulturgeschichte des deutschen Mittel¬
alters aus mittelhochdeutschen Dichtern. Leipzig, Teubner 1894. Über den kulturgeschicht¬
lichen Gehalt des Bolksepos handelt U h l a n d s Aufsatz: „Das Ethische in der Heldensage".
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